(Henri Kramer) Innenstadt — Es war ein Geschäft. Vier Pfennig pro Kilometer und Person hat die Deutsche Reichsbahn am Völkermord verdient. „An Kindern die Hälfte“, erzählt Pädagoge Michael Trube einer sechsten Klasse der Pestalozza-Grundschule in Groß Glienicke. Der 26-Jährige ist einer der Mitarbeiter des „Zuges der Erinnerung“, der heute noch im Potsdamer Hauptbahnhof auf Gleis 1 steht. Gestern erreichte die bundesweite Wander-Ausstellung die Landeshauptstadt.
Ein Zentimeter gleich hundert Kilometer Leid. Auf der Europalandkarte am Anfang des Zugs zeigen rote Verästelungen die Strecken, auf denen mehrere Millionen Menschen in Zügen quer durch Europa deportiert wurden – darunter hunderttausende Kinder und Jugendliche. Die logistische Grundlage für den Völkermord der Nationalsozialisten in Ghettos oder Konzentrationslager lieferte die Deutsche Reichsbahn.
Seit November fährt der Zug durch Deutschland. Am 8. Mai soll er in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz in Polen eintreffen. Er erinnert an die Verstrickung der Reichsbahn in den Genozid. „Treblinka war ein Ziel, mehr nicht“, ertönt die Stimme von Walter Stier in Endlosschleife aus einem aufgehängten Fernsehgerät. Der alte Mann in der Röhre war Spezialist für Sonderzüge – auch nach Kriegsende bei der Deutschen Bahn. „Widerwärtig“, nennt Michael Trube solche Karrieren und macht die Klasse vor ihm auf diesen Aspekt der Ausstellung aufmerksam. Wie Walter Stier sollen viele Logistiker der Reichsbahn nach dem Krieg unbeschadet weitergearbeitet haben, nur wenige sollen wegen Beihilfe zum Völkermord belangt worden sein.
Die Deutsche Bahn steht aber nicht nur wegen der Verfehlungen ihrer Vorgänger in der Kritik: Damit der „Zug der Erinnerung“ das Schienennetz in Deutschland benutzen darf, erhebt die Bahn Trassen- und Stationsgebühren. Die zwei Tage in Potsdam kosten 4000 Euro. Allerdings betonen die Veranstaltungsmacher die reibungslose Zusammenarbeit mit den Bahn-Verantwortlichen vor Ort. „Ich hätte es auch nicht akzeptiert, wenn der Zug an einer anderen Stelle als Gleis 1 gestanden hätte“, sagt Oberbürgermeister Jann Jakobs. Im Berlin durfte der Zug nicht im neuen Hauptbahnhof stehen – angeblich aus technischen Gründen.
Jenseits solcher politischen Debatten haben sich die beiden Voltaire-Schülerinnen Nele Pröpper und Hanna-Luise Tinney mit dem Thema der Ausstellung befasst. Sie suchten einen Zeugen der Deportationen – und fanden Kurt Gormanns. Im Januar 1942 wurden der Junge aus Potsdam, sein Bruder und seine Eltern ins Ghetto nach Lettland deportiert. Nur er überlebte. In Israel haben ihn die beiden 14-Jährigen gefunden, nun schreiben sie an seiner Geschichte. „Es ist wichtig, dass solche Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten“, sagt Nele.
Nicht jeder nimmt die Ausstellung so ernst. „Du bist doch behindert“, lacht ein Teenager mit Kopfhörern im Ohr. Mädchen kichern. „Ich komme später wieder, wenn die Schulklassen weg sind“, schimpft eine Frau. Doch bleiben solche Szenen selten in den zwei Waggons. Viele Jugendliche stehen still vor Tafeln mit Geschichten wie der von Ursula, die mit 15 Jahren umgebracht wurde, weil sie als „lebensunwert“ galt.
Die zwölfjährige Shannon Adler aus der Pestalozza-Schule findet solche Schicksale bewegend: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, in diesen Zügen den Transport über zu stehen.“