Die Methode, mit welcher der rassistische Angriff auf Ermyas M. zerredet wird, ist nicht neu, aber wirkungsvoll.
Klare Verhältnisse herrschen derzeit nur in Bayern. Worum handelt es sich, wenn drei weiße Deutsche zwei Männer mit dunkler Haut angreifen? Wenn sie rufen: »Verpiss dich, Scheiß-Neger« und auf dem Kopf des einen eine Bierflasche zertrümmern? Wenn danach in ihren Wohnungen CDs mit Neonazi-Musik sichergestellt werden? Die Münchner Polizei, die am vergangenen Donnerstag um 0.30 Uhr am Hauptbahnhof mit diesem Fall konfrontiert wurde, hat ihre Vokabeln gelernt. Ein fremdenfeindlicher Vorfall sei es gewesen, teilte sie dem Bayerischen Rundfunk und der Öffentlichkeit mit. Das Wort »rassistisch« gebraucht man zwar auch dort nicht so gern, aber immerhin.
Weiter im Norden, in Potsdam, ist man nicht so simpel gestrickt. Worum handelt es sich, wenn zwei Deutsche einen Mann mit dunkler Haut ins Koma prügeln? Wenn sie rufen: »Scheiß-Nigger« und der eine die Frage des anderen (»Soll’n wir dich wegpusten?«) unmissverständlich mit den Worten beantwortet: »Ich denke schon«? Wenn danach im Auto eines der beiden CDs mit rechter Musik gefunden werden? Eine Antwort auf diese Frage, das weiß man im aufgeklärten Norden, ist nicht so einfach und hängt von vielen Faktoren ab. War das Opfer vielleicht betrunken? Wird einer der Täter vielleicht »Führer« oder wenigstens »Adolf« genannt? Letztlich wird man auch prüfen müssen, ob Ermyas M. nicht nur simuliert. Denn wer will schon seine Hand dafür ins Feuer legen, dass die Faustschläge ihn wirklich trafen und die Verletzungen nicht nur geschickt vorgetäuscht waren?
Für das Resultat des Zerredens eines offensichtlich rassistischen Angriffs zu einem unlösbaren Rätsel hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung das treffendste Wort gefunden. »Gerüchtenebel« hänge über dem Potsdamer Fall, schrieb das Blatt in der vergangenen Woche. Tatsächlich trübten stets neue, nicht belegte Behauptungen die zunächst recht klare öffentliche Wahrnehmung der Fakten, bis die Presse titeln konnte: »Fall Potsdam immer dubioser«.
Intellektuelle Qualitäten waren bei der Nebelwerferei nicht gefragt. So ließen anonyme Ermittler verlauten, einer der Täter gehöre doch nicht der rechtsextremen Szene an, als ob das der Beschimpfung »Scheiß-Nigger« ihren rassistischen Charakter nähme. Schließlich hieß es, Ermyas M. habe die Täter »provoziert«. Bei allen begründeten Zweifeln an dieser Behauptung – selbst von Potsdam mit seiner militaristischen Tradition war bisher nicht bekannt, dass unter der dortigen männlichen Bevölkerung jede Provokation damit geahndet wird, dass auf den, der sie äußert, eingeschlagen wird.
Die Verblödungsstrategie, welche die deutsche Journaille skrupellos mitmacht, ist erprobt. Exemplarisch ging sie nach dem Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße auf, bei dem am 18. Januar 1996 zehn Menschen ums Leben kamen. Vier Rechtsextreme, die in der Brandnacht mit versengten Haaren und Augenbrauen in der Nähe des Hauses in eine Polizeikontrolle gerieten, galten als dringend tatverdächtig – bis die Ermittlungsbehörden nach wenigen Tagen den angeblichen Brandstifter präsentierten: Safwan Eid, einen der 38 Hausbewohner, die bei dem Anschlag verletzt worden waren. Bis zu seinem zweiten Freispruch vor Gericht im November 1999, länger als dreieinhalb Jahre, stand er unter Verdacht, der Täter zu sein. Der »Gerüchtenebel«, der damals die Anklage ermöglichte, setzte sich von Anfang an aus widersinnigen Behauptungen zusammen. Er führte jedoch letztlich dazu, dass die Mörder von damals bis heute frei herumlaufen.
Diesmal waren es zwei altbekannte Hardliner, welche die Vernebelung der klaren Fakten einleiteten: der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (Jungle World, 17/06). Zu dumm, dass die SPD und die Grünen ausgerechnet die Potsdamer Gewalttat umgehend genutzt hatten, um wieder einen kleinen »Aufstand der Anständigen« zu proben. Besonders ärgerlich war aber, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich zog, somit ein ideologisches Motiv für den Angriff nahe legte und dessen überregionale Bedeutung unterstrich. So drängte sich zwischenzeitlich der Eindruck auf, es stünden sich unterschiedliche Strategien im Wege, mit denen wenige Wochen vor der Fußballweltmeisterschaft der Ruf der Republik gerettet werden sollte.
In der Union regte sich jedenfalls nur schwacher Protest gegen Schäubles Inschutznahme der rechten Szene (»Es werden auch blonde, blauäugige Menschen Opfer von Gewalttaten«). Der Innenminister erhielt Unterstützung von prominenten Christdemokraten und von der CDU-Fraktion im Potsdamer Stadtrat. Sie verweigerte die Unterschrift unter einen Brief, in dem die Parlamentsfraktionen der Familie von Ermyas M. ihr Mitgefühl aussprachen. Die Begründung dafür lautete: In dem Schreiben sei von Rassismus die Rede, der aber nicht belegt sei.
Die praktizierte Vernebelungsstrategie ist umso empörender, als die Gefahr für Menschen mit dunkler Haut in Deutschland kontinuierlich wächst. Sogar nach einer Statistik des Bundeskriminalamts nahm die Anzahl gewaltbereiter rechter Skinheads sowie anderer unorganisierter gewaltbereiter Rechtsextremer im vergangenen Jahr um vier Prozent auf 10 400 zu.
Doch wer will schon wissen, ob Rassismus eine Rolle spielt, wenn ein Schwarzer zu Schaden kommt? Schließlich ist auch ein gewaltbereiter Rechter manchmal einfach nur schlecht gelaunt und schlägt los, wenn man ihn stört. So wie in Wismar in der vergangenen Woche. Dort fragte ein dunkelhäutiger Mann drei Deutsche nach dem Weg zum Bahnhof. Womöglich hatte er einfach nur ihr Ruhebedürfnis gestört? Wie auch immer – sie prügelten ihn krankenhausreif. Als Rechtsextreme seien sie nicht bekannt, konnte der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Gottfried Timm (SPD), schon bald die Medien beruhigen. Er wusste auch, dass das Opfer hingegen bereits mit der Polizei in Konflikt geraten war. Vielleicht wird sich noch herausstellen, dass die Täter Dunkelhäutige lieben und nur in Notwehr handelten. So schnelle Schlüsse wie in München zieht man im Norden eben nicht.