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Vom Leben als Neugeborene

(MAZ) Vor gut hun­dert Jahren, 1909, wurde der erste Kib­buz in Palästi­na gegründet.
Auch in Pots­dam gibt es einen Kib­buz, allerd­ings keine klassenlose
Acker­bauge­mein­schaft, son­dern einen Vere­in: Das Kultur‑, Inte­gra­tions- und
Beratungszen­trum, kurz Kibuz. Betrieben von der Zen­tralen Wohlfahrtsstelle,
ist das Haus eine Art Hafen für die jüdis­chen Ein­wan­der­er aus der ehemaligen
Sow­je­tu­nion. Nicht nur aus Pots­dam kom­men die Rat­suchen­den, die sich bei
Behör­dengän­gen und Anträ­gen unter­stützen lassen, son­dern aus dem ganzen
Land. 2300 jüdis­che Zuwan­der­er leben in Brandenburg. 

Im Kibuz herrscht immer ein reges Kom­men und Gehen, sei es zu Vernissagen,
lit­er­arischen Zirkeln, den Geigen­stun­den für Kinder oder dem Beisammensein
bei koscherem Essen. Beson­deres Augen­merk liegt auf der Vermittlung
jüdis­ch­er Traditionen. 

Firuza Tal­i­bo­va kommt oft hier­her, als ehre­namtliche Helferin oder mit ihrer
84-jähri­gen Mut­ter. Seit 1997 lebt Tal­i­bo­va in Deutsch­land. “Als ich hierher
kam”, sagt die 51-Jährige, “war ich wie neuge­boren.” Über die Zeit vorher,
in der aser­baid­sch­a­nis­chen Haupt­stadt Baku, erzählt sie nur ungern. Krieg
gab es, Panz­er und Schießereien. 

“Verteilorte” in der neuen Heimat 

In ihrer neuen Heimat Bran­den­burg waren die Sta­tio­nen des “jüdis­chen
Kontin­gents­flüchtlings” Tal­i­bo­va zuerst die Zen­trale Lan­desauf­nahmestelle in
Peitz, später ein Wohn­heim und schließlich eine kleine Woh­nung in Potsdam.
Andere “Verteilorte” für die zuge­wan­derten Juden sind Cottbus,
Brandenburg/Havel, Frank­furt (Oder) sowie die Land­kreise Barn­im, Oberhavel
und Dahme-Spreewald. 

“Ich war wie neuge­boren”, wieder­holt Tal­i­bo­va, doch hat ihre Erleichterung
einen nach­den­klichen Beik­lang. Mehrmals hat die erfahrene Kinderärztin
ver­sucht, hier Beruf­sprax­is zu sam­meln. Doch statt eine der raren
Assis­ten­zstellen in ein­er Klinik zu ergat­tern, hat­te sie meist nur
befris­tete Jobs als Sozialar­bei­t­erin oder Arzthelferin. Hil­fe bei der
Ver­mit­tlung gibt es erst seit let­ztem Sep­tem­ber in der Peitzer
Lan­desauf­nahmestelle mit einem neuen Pro­jekt, dem “Inte­gra­tionsvorhaben für
zuge­wan­derte Ärzte”. Anstatt die Medi­zin­er gle­ich nach zehn Tagen in ihre
neuen Wohnorte zu brin­gen, wie son­st bei Zuwan­der­ern üblich, wer­den sie in
einem sechsmonati­gen Sprachkurs in Peitz geschult. Außer­dem erfol­gt die
Ver­mit­tlung der Ärzte in ihre neuen Wohnorte nach Medizinerbedarf.
Allerd­ings, räumt Ilona Schulz von der Lan­desauf­nahmestelle ein, “ist es für
die über 50-jähri­gen Ärzte beru­flich sehr schwierig”. 

Inner­lich hat­te sich die Ärztin Tal­i­bo­va schon früh auf Deutschland
eingestellt: “Ich habe ver­standen, dass es ein neues Land ist und ein neues
Leben — von meinem Beruf hat­te ich mich schon davor in mein­er Heimat
ver­ab­schiedet.” Bei ihrer ehre­namtlichen Arbeit im Kibuz sieht sie aber auch
oft schlimme Auswirkun­gen der Umstel­lung: Depres­sio­nen, beson­ders bei den
älteren Män­nern, die auf dem deutschen Arbeits­markt nicht mehr Fuß fassen.
“Die Frauen”, hat Tal­i­bo­va beobachtet, “kön­nen bess­er mit allem umgehen.”
Weil sie sich nicht so in den Woh­nun­gen einigeln wie die Män­ner, die früher
oft in lei­t­en­den Posi­tio­nen waren und den Bedeu­tungsver­lust schwer
verkraften. Über 80 Prozent der jüdis­chen Zuwan­der­er hat­ten in ihrer Heimat
akademis­che Berufe. Während die Jun­gen sich leicht in die deutsche
Arbeitswelt inte­gri­eren, bleiben die Älteren meist unter sich. 

Ein Phänomen, das sich in Bran­den­burg durch die Abwan­derung noch verstärkt:
Von den rund 6900 jüdis­chen Zuwan­der­ern, die zwis­chen 1991 und 2004 in
Bran­den­burg aufgenom­men wur­den, leben nur noch 2300 im Land, so die
Schätzung des Sozialmin­is­teri­ums. “Die Jun­gen sind mobil­er und gehen
dor­thin, wo es mehr Arbeit gibt”, erläutert Nadine Fügn­er vom Büro der
Aus­län­der­beauf­tragten. Fügn­er hat aber nicht nur eine Diskrepanz zwischen
Erwartung und Real­ität bei den älteren Zuwan­der­ern aus­gemacht. Auch auf
deutsch­er Seite sei man von falschen Erwartun­gen aus­ge­gan­gen: “Man hat sich
eine unprob­lema­tis­chere Inte­gra­tion vorgestellt und dass alle Zuwanderer
sich jüdis­chen Gemein­den anschließen.” 

Dabei ist ger­ade das religiöse Leben in ein­er Gemeinde meist ungekannte
Prax­is für die Juden aus der Ex-Sow­je­tu­nion: “Wenn man sich den Traditionen
wid­mete, wurde man für die Staats­führung verdächtig”, erin­nert sich
Kibuz-Leit­er Niko­lai Epchteine. Eltern lehrten ihre Kinder nicht mehr das
Jid­dis­che, Rit­uale gin­gen verloren. 

Keine Chan­cen im Beruf 

Seit 1996 lebt Epchteine in Bran­den­burg, nach­dem er jahrzehn­te­lang als
Biologe in Moskau gear­beit­et hat­te. Im Beruf, erzählt der 65-Jährige, sah er
nach der Über­sied­lung keine Chan­cen mehr. “Aber ich wollte in einem
demokratis­chen Land leben.” Und ohne die wach­sende anti­semi­tis­che Bedrohung
in Rus­s­land, mit Leuten, die in den U‑Bahnstationen agi­tieren und
Hak­enkreuz-Arm­binden tra­gen. In Pots­dam war Epchteine auch im Vor­stand der
Jüdis­chen Gemeinde. Ihr gehören längst nicht alle Zuwan­der­er an. Zum einen
wegen der Reli­gions­ferne im Herkun­ft­s­land, zum anderen wegen der
“Halachis­chen Geset­ze”: Nur wer eine jüdis­che Mut­ter hat, kann
Gemein­demit­glied wer­den. Von den 2300 Bran­den­burg­er Juden sind 1500 religiös
einge­bun­den. Wer sich hierzu­lande im Gemein­deleben engagiert, leistet
Pionierarbeit. 

So etwas wie eine Stunde Null war die Wende in der DDR, wo es offiziell nur
noch 350 Juden gab. Mitte der 80er Jahre hat­te die Staats­führung zwar die
Syn­a­goge in der Oranien­burg­er Straße in Berlin restau­ri­eren lassen. Damit
soll­ten Plus­punk­te für einen geplanten USA-Staats­be­such Honeck­ers Anfang der
90er gesam­melt wer­den. In Pots­dam lebten aber zum Beispiel nur noch zwei
Juden, von denen sich ein­er um den Jüdis­chen Fried­hof am Pfingstberg
küm­merte. Mit­tler­weile ist das Are­al mit den vie­len alten Gräbern wieder in
jüdis­chem Gemeindebesitz.

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