Karl Stenzel war Häftling in Sachsenhausen — bis heute macht er Führungen
durch das Lager
(MAZ, Andrea Müller) GROß KÖRIS/SACHSENHAUSEN Schon vor 8 Uhr steht Karl Stenzel vor seinem Haus in Groß Köris. Er soll
abgeholt werden, um im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen über
seine Erlebnisse als Häftling zu berichten. Zweimal im Monat übernimmt der
fast 90-Jährige noch immer diese Aufgabe.
Die Klasse 10/3 des Elsengrund-Gymnasiums in Berlin-Hellersdorf ist auf die
Minute pünktlich am Haupteingang des KZ Sachsenhausen. Noch hat der Rundgang
mit den 15/16jährigen Schülern gar nicht angefangen, da stellen sie schon
erste Fragen. Den Jugendlichen war das Schild mit dem Wort “Todesmarsch”
gleich am Eingang aufgefallen. Nun wollen sie wissen, was es damit auf sich
hat.
Bereits im Geschichtsunterricht haben sie eine Menge über die Zeit des
Faschismus gehört, auch über das, was in den Konzentrationslagern passiert
ist. Es gab damals insgesamt 2000 Haupt- und Nebenlager, können sie später
auf einer Tafel der ständigen Ausstellung im Lagermuseum lesen. Weil die
Zeit jetzt Thema im Unterricht ist, wird die Klasse von ihrer
Geschichtslehrerin Manuela Günther begleitet.
Karl Stenzel ist sofort mitten in der Thematik. Seine eigene Biografie
ermöglicht ihm den direkten Zugang zu den Zuhörern. Von November 1941 bis
April 1945 war er hier politischer Gefangener. Vom Polizeigefängnis am
Alexanderplatz aus war er hierher transportiert worden. Mit schnellem
Schritt führt er die Klasse durch das Eingangstor auf den einstigen
Appellplatz. Dort, wo jetzt die Schüler stehen, standen die Häftlinge,
erklärt er. Als er selbst das erste Mal hier nach seiner Ankunft anzutreten
hatte — er landete mit seiner Größe von gerade 1,51 Metern ganz außen — sei
gerade ein Häftling vorbei gekommen. Der habe ihm im Vorbeigehen zugeraunt:
Du bist nicht vorbestraft. “Ich konnte damit nicht gemeint sein”, so Karl
Stenzel. Er hatte doch bereits eine sechsjährige Zuchthausstrafe hinter
sich, war mit geschnappt worden, als in Leipzig — wo er her kam -
Massenverhaftungen vorgenommen worden waren. Vor dem Amtsgericht war Karl
Stenzel wegen Hochverrats verurteilt worden. Und schon vorher hatte er eine
dreimonatige Haftstrafe abzusitzen, weil er mit Kameraden des
Kommunistischen Jugendverbandes Flugblätter verteilt hatte. Aber die
Bemerkung des Häftlings hatte durchaus seinen Sinn. Von jedem ließen sich
die Aufseher sagen, weswegen sie nach Sachsenhausen gebracht worden sind.
Unter den Angetretenen befanden sich auch vier Juden, erzählt Karl Stenzel.
Einem von ihnen sei das Wort Rassenschande — er hatte seine Frau trotz
Ariergesetzes noch besucht — nicht über die Lippen gegangen… Dafür seien
er und die anderen Juden zusammengetreten worden. Karl Stenzel begriff
damals, dass man an einem Ort, an dem man nur ein Symbol (rotes Dreieck für
politischer Gefangener) und eine Zahl war, nie auffallen durfte.
Dann zeigt der ehemalige KZ-Häftling, wo die Baracken standen. Eingelassen
in eine im Halbrund errichtete Mauer sind ihre Silhouetten noch sichtbar.
Die Öffnung in ihrer Mitte gibt den Blick auf den ehemaligen Standplatz des
Galgens und das heutige Denkmal frei. In Sachsenhausen waren 220 000
Menschen aus 22 Nationen Europas eingesperrt. 100 000 Frauen und Männer
starben hier… Einige von ihnen, so erzählt Karl Stenzel, mussten
“Schuhlaufen”. Das bedeutete Schuhwerk für den Militärdienst testen, das
hieß täglich 40 Kilometer in voller Montur im Kreis auf dem Appellplatz zu
laufen. Beatrice Urban aus der 10/3 will wissen, ob er das selbst gesehen
hat. “Das habe ich jahrelang gesehen”, lautet die Antwort. Was man denn mit
den vielen Leichen gemacht hat, will Gerit Müller wissen. Karl Stenzel
verweist auf die Massengräber und das Krematorium. “Da kam eine Menge Asche
zusammen…”
Vom Denkmal aus geht es zum Lagermuseum. Die Schüler sehen die Namen von
Tausenden Toten, die Gesichter der Kameraden von Karl Stenzel. “Viele von
ihnen habe ich persönlich gekannt”, sagt er. Gefühle will er vor den
Schülern nicht nach außen dringen lassen. Erst hinterher sagt er, dass
dieser Moment immer wieder schlimm für ihn ist. Nur wer genau hinhört, kann
ein leichtes Zittern in der Stimme ausmachen. So wie man seine Wut darüber
erkennen kann, dass Offiziere aus dem Lager nach Beendigung des Krieges
ungeschoren oder nur mit kurzer Haft davon kamen. So wie den Ärger darüber,
dass die internationale Ausstellung im Eingangsbereich des Lagers nach der
Wende beräumt und ihr Inhalt ins Archiv wanderte, dass nach dem Fall der
Mauer vor allem die Berichte über die Greueltaten der Wehrmacht in den
überfallenen Ländern nicht mehr gewollt waren. Karl Stenzel führt die jungen
Leute durch das KZ , erzählt, dass der Kapitalismus ab einem bestimmten
Gewinn zu allem fähig ist. Zu allem, wer wüsste das besser als jemand, der
das am eigenen Leib erfahren musste. Trotzdem. “Ich habe mein Lebensziel
nicht erreicht”, gesteht der Kommunist den Jugendlichen und fügt hinzu: “Ich
hoffe, dass ihr klüger seid.” Die jungen Frauen und Männer hören sich das
schweigend an und gehen nach dem Rundgang mit Karl Stenzel das Lager noch
einmal allein ab. Auf dem Rucksack eines Mädchens kann man lesen “Destroy
Fascism”…