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Was geschah wirklich in Frankfurt/Oder?

(WSWS, Ulrich Rip­pert) Sechs Wochen nach­dem der Ver­fas­sungss­chutz des Lan­des Bran­den­burg einen Anschlag auf die Aus­län­der­be­hörde von Frankfurt/Oder zum Anlass nahm, der World Social­ist Web Site (WSWS) die Förderung von Gewalt­bere­itschaft vorzuw­er­fen und sie in das Umfeld des gewalt­täti­gen “link­sex­trem­istis­chen Spek­trums” zu rück­en, liegen die wirk­lichen Ereignisse jen­er Nacht noch immer weit­ge­hend im Dunkeln. 

Unbekan­nte Täter hat­ten in der Nacht zum 16. Sep­tem­ber die Fen­ster der Aus­län­der­be­hörde in Frankfurt/Oder eingeschla­gen, eine übel­riechende Flüs­sigkeit in die Räume gewor­fen, die Schlöss­er der Außen­türen mit Klebestoff gefüllt und Parolen auf den Giebel gesprüht. Ange­blich hat­ten der oder die Täter einen WSWS-Artikel hin­ter­lassen, der sich kri­tisch mit der Flüchtlingspoli­tik der Bun­desregierung auseinandersetzt. 

Kurz darauf erschien auf der Online-Seite des Ver­fas­sungss­chutzes Bran­den­burg ein Bericht, der diesen Artikel vom Feb­ru­ar 2001 als Beweis für “den link­sex­trem­istis­chen Hin­ter­grund der Tat” wertete. Der Ver­fas­sungss­chutz behauptet, der Artikel rei­he “sich ein in eine Serie ähn­lich­er Veröf­fentlichun­gen, die in ihrer Summe Gewalt­bere­itschaft fördern oder direkt her­vor­rufen”, und schließt mit den Worten: “Mit solchen Tex­ten ist die Straße zur Straftat gepflastert.” 

Die Redak­tion der WSWS hat diese ver­leumderische Unter­stel­lung in aller Schärfe zurück­gewiesen. (Siehe dazu: “Bran­den­burg­er Ver­fas­sungss­chutz ver­leumdet World Social­ist Web Site”) 

Seit­dem wurde deut­lich, dass die Ermit­tlun­gen von Polizei und Staat­san­waltschaft äußerst schlep­pend betrieben wer­den. Auf Anfrage der WSWS teilte die Staat­san­waltschaft in Frankfurt/Oder mit, der zuständi­ge Staat­san­walt Ulrich Scherd­ing befände sich im Urlaub und die Ermit­tlungsak­te sei noch immer bei der Polizei, die die Ermit­tlun­gen durch­führe. Der Press­esprech­er des Polizeiprä­sid­i­ums Peter Sal­en­der dage­gen erk­lärte, für Presseauskün­fte in einem schweben­den Ver­fahren sei die Staat­san­waltschaft zuständig. 

Als daraufhin die Redak­tion der WSWS schriftlich mehrere Fra­gen vor­legte, wurde sie zu einem Infor­ma­tion­s­ge­spräch ins Polizeiprä­sid­i­um nach Frankfurt/Oder ein­ge­laden. Doch die Infor­ma­tio­nen blieben äußerst spärlich. 

Frage: Von wem und wann wurde der Anschlag gemeldet? Welche Polizei­di­en­st­stelle hat die ersten Ermit­tlun­gen am Tatort begonnen? Gab es Zeu­gen aus der Nach­barschaft oder zufäl­lige Beobachter? Wur­den Zeu­gen ver­nom­men? — “Aus Ermit­tlungs­grün­den” keine Antwort. 

Frage: Welch­er gesicherte Tather­gang wurde bish­er ermit­telt? Waren mehrere Per­so­n­en an der Tat beteiligt? Gibt es Ermit­tlun­gen gegen Verdächtige? Wurde Strafanzeige gegen Verdächtige oder gegen unbekan­nt erstat­tet? — Keine Antwort. 

Frage: Wer hat den WSWS-Artikel gefun­den? Wann genau und wo genau wurde dieser Artikel gefun­den? Wurde das Schreiben auf Fin­ger­ab­drücke und druck­tech­nis­che Merk­male unter­sucht? Gab es hand­schriftliche oder andere Bemerkun­gen, oder eine Zuord­nung auf dem Schreiben? — Keine Antwort, lediglich der Hin­weis, dass die Ermit­tlun­gen pro­fes­sionell und mit Hil­fe aller zur Ver­fü­gung ste­hen­den krim­inal­tech­nis­chen Mit­tel durchge­führt würden. 

Allerd­ings beste­he für die Polizei kein Zweifel an der Zuord­nung des Artikels, erläuterte Peter Sal­en­der. Der oder die Täter hät­ten ihn am Tatort hin­ter­lassen, um die poli­tis­che Inten­tion ihres Han­delns zu verdeut­lichen, davon gehe die Polizei aus. Worauf sich diese Behaup­tung stütze und wer den Artikel wann und wo gefun­den habe — keine Antwort. 

Nach­barn nicht befragt

Eigene Recherchen der WSWS in Frankfurt/Oder ergaben ein genaueres Bild des Tather­gangs als die dürfti­gen Aus­sagen von Polizei und Staat­san­waltschaft und bestätigten gle­ichzeit­ig den Ein­druck, dass es von Seit­en der Behör­den wenig Inter­esse an der Aufk­lärung des Tather­gangs gibt. 

In der Gren­zs­tadt zu Polen, etwa hun­dert Kilo­me­ter östlich von Berlin, leben knapp 70.000 Ein­wohn­er — Ten­denz fal­l­end. Die wach­senden poli­tis­chen und sozialen Span­nun­gen sind in vie­len Bezirken der ehe­ma­li­gen Indus­tri­es­tadt an der Oder mit Hän­den zu greifen. Immer mehr Men­schen im arbeits­fähi­gen Alter wan­dern in andere Teile der Bun­desre­pub­lik ab. Die Arbeit­slosigkeit nimmt ständig zu. Ende 2001 wies die offizielle Sta­tis­tik 18,1 Prozent Arbeit­slose aus, Anfang dieses Jahres waren es bere­its 22 Prozent. 

Poli­tisch dominierte in der Stadt bish­er die SPD. Bei den Land­tagswahlen vor vier Jahren gaben 65 Prozent der Wäh­ler im Wahlkreis Frankfurt/Oder I der SPD oder der PDS ihre Stimme, während die CDU nur 25,3 Prozent und die recht­sradikalen Parteien Deutsche Volk­sunion und NPD zusam­men 5,3 Prozent erziel­ten. Doch seit­dem hat die Oppo­si­tion gegen die SPD-Poli­tik drama­tisch zugenom­men. Bei den Kom­mu­nal­wahlen am ver­gan­genen Son­ntag erlitt die SPD in Frankfurt/Oder eine ver­nich­t­ende Nieder­lage und sack­te auf 15 Prozent ab. Ver­glichen mit den Kom­mu­nal­wahlen vor fünf Jahren sank die Wahlbeteili­gung von 74,8 auf 38,3 Prozent. Statt über 39.000 Stim­men (1998) erhielt die SPD nur noch knapp 9.000. Auch die PDS, die zwar fast fünf Prozent­punkt hinzu gewann, ver­lor durch die geringe Wahlbeteili­gung 16.000 Wähler. 

Die Aus­län­der­be­hörde, die in den frühen Mor­gen­stun­den des 16. Sep­tem­ber über­fall­en wurde, liegt in einem ver­gle­ich­sweise ruhi­gen Innen­stadt­bezirk. Nur wenige Schritte gegenüber befind­en sich Mietswoh­nun­gen. Mehrere Anwohn­er waren durch das Ein­schla­gen von zwölf Fen­ster­scheiben im Gebäude der Behörde aufgeschreckt worden. 

Ein älter­er Bewohn­er der Bischoff­s­trasse, dessen Woh­nung einen guten Blick auf das Aus­län­der­amt ermöglicht, berichtete der WSWS, dass er zur Tatzeit wach gewe­sen sei und etwa um 3.50 Uhr lautes Krachen und Klir­ren gehört habe. Zwar habe er nie­man­den erken­nen kön­nen, aber er habe deut­lich gehört, wie mehrere Per­so­n­en — “min­destens zwei” — die Straße hin­unter ran­nten. Eine Nach­barin habe die Polizei informiert, die auch wenige Minuten später eingetrof­fen sei. 

Er habe das Gefühl, dass wed­er die Polizei noch die Poli­tik großes Inter­esse daran habe, den Angriff auf die Behörde ern­sthaft aufzuk­lären. Nach­dem in den ersten Tagen in allen Lokalzeitun­gen und sog­ar im Lokalfernse­hen über die Sache berichtet wor­den war, seien keine weit­eren Infor­ma­tio­nen erschienen, berichtete er. Er selb­st sei von der Polizei zu keinem Zeit­punkt in dieser Angele­gen­heit befragt worden. 

Ähn­lich äußerte sich eine andere Anwohner­in. Auch sie sei nicht von der Polizei oder anderen Ermit­tlungs­be­hör­den befragt oder ver­nom­men wor­den, obwohl sie einiges zu sagen hätte. In der Tat­nacht sei sie vom Krach der zer­schla­ge­nen Scheiben aufgewacht und habe von ihrem Balkon aus gese­hen, dass wenige Minuten später eine Polizeistreife vorge­fahren sei. Die Polizeibeamten macht­en auf sie einen weit­ge­hend desin­ter­essierten Ein­druck. Vor allem sei sie über­rascht gewe­sen, dass sie nicht die ger­ing­sten Anstal­ten gemacht hät­ten, nach Tätern Auss­chau zu hal­ten oder diese zu ver­fol­gen, obwohl der Anschlag erst wenige Minuten zurück lag. 

Stattdessen hät­ten sie nach einem kurzen Rundgang um das Gebäude “lau­thals und für jeden Anwohn­er hör­bar” über Funk einen Lage­bericht an die Ein­satzzen­trale gegeben. Darin seien die zwölf eingeschla­ge­nen Scheiben genan­nt und die an die Fas­sade gesprühte Parole ver­lesen wor­den: “Deutsch­land deportiert wieder! Wider­stand ist notwendig und mach­bar!” Außer­dem hät­ten die Beamten betont, dass sie ein drei­seit­iges Beken­ner­schreiben vorge­fun­den hät­ten. Wenig spä
ter sei diese Polizeistreife von ein­er zweit­en abgelöst wor­den, die den Tatort abges­per­rt habe. 

Etwa zeit­gle­ich mit diesem polizeilichen Lage­bericht beobachtete diese Anwohner­in, die namentlich nicht genan­nt wer­den will, dass sich im Ein­gang zu ein­er Turn­halle in etwa 100 oder 150 Metern Ent­fer­nung vom Tatort eine männliche Per­son aufhielt, die die Ereignisse zu ver­fol­gen schien. Aufge­fall­en seien ihr sowohl eine Tasche, die der Mann in der Hand hielt, als auch die hellen Hosen, die er trug. 

Wenig später sei eine ähn­liche Per­son, “auch in hellen Hosen”, am Tatort aufge­taucht, doch soweit sie es habe beobacht­en kön­nen, habe die Polizei kein Inter­esse gezeigt, diesen Mann zur Rede zu stellen oder zu vernehmen. “Ich war darüber höchst ver­wun­dert. Immer­hin war es sehr früh am Mor­gen und die Polizei hat­te ger­ade den Tatort abges­per­rt. Da wäre es doch nahe gele­gen den Mann zu befra­gen, zumin­d­est festzustellen, ob er etwas gese­hen hat.” 

Noch etwas sei ihr aufge­fall­en. Sie wohne nun seit fünf Jahren in dieser Strasse, und in dieser Zeit sei die Alar­man­lage der Aus­län­der­be­hörde min­destens drei oder vier Mal los­ge­gan­gen, soweit sie wisse immer Fehlalarm. Aus­gerech­net in dieser Nacht habe kein Alarm stattge­fun­den. “Ist das nicht selt­sam? Wenn Sie mich fra­gen”, erk­lärte die Anwohner­in, “war der Alarm abgeschal­tet, aus welchem Grund auch immer.” 

Auskün­fte des Amtsleiters

Bei dem Gebäude, in dem die Aus­län­der­be­hörde unterge­bracht ist, han­delt es sich um einen typ­is­chen Flach­bau aus DDR-Zeit­en. Im Erdgeschoss befind­et sich ein Ein­wohn­er­meldeamt der Stadt. Die weni­gen Räume der Aus­län­der­be­hörde liegen im ersten Stock. Für das Gebäude gäbe es keinen eige­nen Haus­meis­ter, erk­lärte der Amt­sleit­er, Herr Ter­lach, dem WSWS. Statt dessen kon­trol­liere der Wach­schutz der Stadtver­wal­tung die Behörde, und sie liege auf der Route der Polizeistreife. In welchen Abstän­den die Polizei das Gebäude nachts kon­trol­liere, könne er nicht sagen, erk­lärte Herr Terlach. 

Er wohne außer­halb und sei in der Tat­nacht um 4.30 Uhr von der Polizei informiert wor­den und eine Stunde später am Tatort gewe­sen. Bei sein­er Ankun­ft sei das Gelände bere­its abges­per­rt gewe­sen. Die Polizei habe die Ein­gangstüren nicht auf­brechen wollen und daher auf ihn gewartet. Allerd­ings sei dann fest­gestellt wor­den, dass die Türschlöss­er verklebt waren und erst durch einen Schlüs­sel­dienst geöffnet wer­den kon­nten. Nie­mand sei in die Büroräume einge­drun­gen. Akten und Com­put­er seien wed­er beschädigt noch ent­fer­nt wor­den. Aber durch die eingeschla­ge­nen Scheiben sei eine übel riechende Chemikalie gewor­fen wor­den, die in eini­gen Büros den Tep­pich­bo­den ruiniert habe. 

Auf die Frage nach einem Beken­ner­schreiben antwortete Herr Ter­lach mit dem Hin­weis, dass ihm zwar mit­geteilt wor­den sei, dass ein Text gefun­den wurde. Obwohl er als Amt­sleit­er für die Aus­län­der­poli­tik der Stadt mitver­ant­wortlich sei, habe er das Schreiben aber nie zu Gesicht bekom­men. Später habe er erfahren, dass es sich um einen eher all­ge­meinen und älteren Text han­dle, der sich nicht direkt gegen seine Behörde richte und offen­bar auch nicht von den Tätern ver­fasst war. Außer­dem gab er an, dass er kein­er­lei Infor­ma­tio­nen über den Stand der Ermit­tlun­gen habe. 

Neue Fra­gen

Sechs Wochen nach dem Anschlag stellen sich mehr Fra­gen als am Anfang: Warum ermit­telt die Polizei der­art schlep­pend und desin­ter­essiert? Warum wur­den poten­tielle Zeu­gen nicht befragt? Warum wer­den Ermit­tlungsergeb­nisse, die nicht sicher­heit­srel­e­vant sind, nicht bekan­nt gegeben? Nach sechs Wochen gibt es von den Ermit­tlungs­be­hör­den keine Infor­ma­tio­nen, die über das hin­aus gehen, was am ersten Tag in den Medi­en veröf­fentlicht wurde. 

In deut­lichem Gegen­satz zur Pas­siv­ität der Ermit­tlungs­be­hör­den ste­ht das Vorge­hen des Ver­fas­sungss­chutzes, der den Anschlag auf die Aus­län­der­be­hörde sofort nutzte, um eine sozial­is­tis­che Pub­lika­tion in einen link­sex­tremen und gewalt­täti­gen Zusam­men­hang zu stellen. Und dies obwohl die Ermit­tlungs­be­hör­den bis heute über Täter und Hin­ter­gründe des Anschlags nicht die ger­ing­sten Angaben machen kön­nen oder wollen. Der gegen die WSWS gerichtete Artikel des Ver­fas­sungss­chutzes trägt das Datum vom 16. Sep­tem­ber, dem Tag des Anschlags auf die Frank­furter Ausländerbehörde. 

Angesichts dieser Lage stellen sich die Fra­gen weit­er, die wir bere­its in der ersten Stel­lung­nahme aufwar­fen: Waren Agen­ten des Ver­fas­sungss­chutzes am Anschlag auf die Frank­furter Aus­län­der­be­hörde am 16. Sep­tem­ber beteiligt? Weiß der Ver­fas­sungss­chutz mehr, als er zugibt? Hat­te er bei der Hin­ter­legung des WSWS-Artikels selb­st die Hände im Spiel? 

Siehe auch:
Bran­den­burg­er Ver­fas­sungss­chutz ver­leumdet World Social­ist Web Site (18. Okto­ber 2003)

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