Ein Überlebender spricht. Willi Frohwein, 82 Jahre alt, kam in der Zeit des
Nationalsozialismus ins Konzentrationslager Auschwitz. Vor mehreren hundert
Schülern des Heinrich-Heine-Gymnasiums schildert er, wie er dem nahezu
sicheren Tod entkam.
Es erscheint wie ein Wunder, dass Willi Frohwein an diesem Dienstagvormittag
in der Aula an der Hegelstraße sitzt. Es erscheint wie ein Wunder, dass der
82-Jährige so viel jünger wirkt.
In die Schweiz wollte er fliehen, im Jahr 1942. Als Sohn eines Juden sah er
keine Zukunft für sich in Deutschland. Er packte einen Koffer, griff sich
seine Lebensmittelkarten und etwas Geld und verschwand aus seiner Heimat
Berlin. Doch aus seinen Plänen wurde nichts. Ein Zollbeamter, ein
Fernschreiben der Gestapo in den Händen, verhaftete ihn mit den Worten: “Du
Mistsau, jetzt wollte ich dich gerade laufen lassen.”
Nach dem Gefängnisaufenthalt in Berlin erfuhr Frohwein: Er sollte nach
Oberschlesien transportiert werden. “Oh je, dachte ich, das ist dort, wo
alle so schnell sterben.” Der Zug fuhr nach Breslau, dort stiegen die
Häftlinge um, am nächsten Tag ging es weiter. Ein Aufpasser erklärte ihnen:
“Ihr Juden braucht euch gar nicht einbilden, dass ihr in Auschwitz länger
als 14 Tage am Leben bleibt.” Frohwein erinnert sich: Dies sei das erste Mal
gewesen, dass er überhaupt den Namen Auschwitz gehört habe.
Ankunft im Lager, unter dem Schriftzug am Eingang “Arbeit macht frei” .
“Dort gaben sie uns kleine Säcke, in die wir alle unsere Sachen geben
mussten.” Desinfiziert, gebadet und geschoren, werden die Häftlinge
eingekleidet. “Die Hose war 20 Zentimeter zu weit und 20 Zentimeter zu kurz.
Da hast du beide Hände voll zu tun, um sie zu halten.” Einen neuen Namen
bekamen die Angekommenen, eine Nummer, auf die Haut tätowiert. “122785” , so
hieß Frohwein nun.
Hoffnung im Horror
“Lebensmut und Hoffnung zu vermitteln, ist manchmal mehr Wert als alles
Materielle” , sagt er zu den Jugendlichen, die ihm still zuhören, “denn wenn
du den Lebensmut verloren hast, hilft dir auch kein Geld mehr.” Und Willi
Frohwein verlor den Lebensmut. Er wurde krank. Die Aufseher sortierten
kranke Häftlinge aus. “Es hieß immer nur: Die gehen auf Transport.” Mehrmals
sah es so aus, als würde Frohwein auch “auf Transport gehen” , mehrmals
wurde er auf seine Pritsche zurückgeschickt. “Irgendwann dachte ich: Wenn du
auf den Transport kommst, ist endlich Schluss. Ich war erst 20, aber ich
hatte mich mit allem abgefunden.”
Geschenke für die Sterbenden
Doch dann kam er in eine Wäscherei. “Das war meine Lebensrettung.”
Im Januar 1945 wurde Frohwein nach Nordhausen verlegt, wo er in einem
Stollen am Bau der Rakete V 2 mitwirkte. “Ich dachte daran, wie paradox das
alles ist. Du wolltest nicht, dass die Nazis den Krieg gewinnen, und dann
arbeitest du an den modernsten Waffen der Welt.”
Doch die Amerikaner rückten immer näher. Deshalb schickten die Nazis ihre
Häftlinge nach Bergen-Belsen. Fünf Tage Fahrt, ohne Trinken, ohne Essen.
Manche starben unterwegs. Im April trafen auch in Bergen-Belsen
amerikanische Soldaten ein, vor denen die SS-Leute auf die Knie fielen. “Ich
dachte erst, das wären Pfarrer.” Am 1. Mai erlebte Frohwein endlich wieder
die Freiheit — die Gefangenenfürsorge kümmerte sich um ihn.
Im Cottbuser Gymnasium spricht er auf Einladung der 18-jährigen
Schülersprecherin Stephanie Habakuk. Sie hatte eine Fernsehsendung mit ihm
gesehen, Kontakt zur Redaktion aufgenommen und schließlich mit ihm
telefoniert. “Meine Großmütter sind aus Schlesien und Ostpreußen vertrieben
worden” , sagt sie, “auch deshalb interessiert mich diese Zeit der deutschen
Geschichte besonders. Mir war wichtig, dass ein Zeitzeuge mit uns Schülern
spricht.” Und Frohwein gewinnt die Jugendlichen für sich: Sie hören ihm
still zu, sie bleiben im Saal, obwohl er knapp drei Stunden spricht. “Seine
Geschichte hat mich berührt” , erklärt Corina Görlitz (18) aus Cottbus, “es
ist schon beklemmend, wenn man jemandem zuhört, der die Zeit in Auschwitz
selbst erlebt hat.”
Hintergrund Buch des Überlebenden
In seinem Buch “Von Spandau nach Auschwitz” — erschienen 2002 bei der
Jugendgeschichtswerkstatt Spandau und für 10 Euro erhältlich — berichtet
Willi Frohwein, der jetzt in Potsdam wohnt, über sein Leben.
LR
20.04.05 selau
“Wir warnen vor der Wiederkehr des Bösen”
Acht Überlebende des Todesmarsches bei der Gedenkfeier
60 Jahre ist es her, da haben die acht Männer, die am Montagabend auf den
extra aufgestellten Stühlen am dem Schwarzheider Gedenkplatz sitzen, diesen
Ort verlassen. Ausgemergelt, in gestreifter Häftlingskleidung, meist nur mit
Holzpantinen an den geschundenen Füßen.
Sie, die tschechischen Häftlinge aus dem Außenlager Schwarzheide des
Konzentrationslagers Sachsenhausen, wurden von den Nazis auf den Todesmarsch
geschickt, damit sie nicht lebend der Roten Armee in die Hände fallen.
“Ist es nicht ein Wunder, dass wir heute hier sind” , fragt der 79 Jahre
alte Hans Gärtner aus Prag. Er liest die Gedenkrede von Ludek Elias, der
auch unter den Männern sitzt, vor. “Wer hätte vor sechzig Jahren auch nur
ein einziges Haar von unseren kahl geschorenen Schädeln dafür verwettet,
dass wir uns heute ins Gesicht schauen könnten” , heißt es darin. Das sei
kaum zu erwarten gewesen angesichts der Last der Zementsäcke, die oft zwölf
Stunden am Tag die Häftlinge tragen mussten, und die meist mehr wogen als
sie selbst. “Was machen wir mit dem Rest der Zeit, der uns noch bleibt” ,
las Gärtner vor. “Als die letzten der Zeitzeugen können wir immer noch dazu
beitragen zu erzählen, was uns widerfahren ist.” Das sei ihre geschichtliche
Mission, und “wir warnen vor der Wiederkehr des Bösen.” Deshalb wolle man
den Rest der Kräfte dazu nutzen, mit den jungen Leuten, die sich erst noch
orientieren müssten in der Welt, zu reden, damit sie fähig sind, “unsere
Warnungen zu beherzigen, denn wir sind verpflichtet, darauf hinzuweisen.”
Das sei nicht nur die Pflicht gegenüber den Kindern und ihren Eltern,
sondern auch “gegenüber unseren toten Kameraden” . Die bewegenden Worte
honorierten Vertreter aus Kreis, Stadt, Umland, Parteien und der die
Gedenkfeier organisierenden BASF mit Beifall und legten Kränze sowohl auf
dem Gedenkplatz als auch an der Gedenktafel am Einmannbunker nieder.
Zuvor hatte Bernd Hübner, Bürgermeister der Stadt Schwarzheide, die
Notwendigkeit der geschichtlichen Aufarbeitung betont und dabei den Schwur
bekräftigt, der im Nachwort von Bruno Apitz “Nackt unter Wölfen” benannt
ist: Nie wieder Faschismus. Walter Kroker, der 1. Beigeordnete des
Landrates, erinnerte an die Perversion der Hitlerschen Tötungsmaschienerie.
Die Überlebenden begaben sich am Dienstag auf den Weg des einstigen
Todesmarsches und nahmen an einer Gedenkfeier im sächsischen Kamenz bei.