Wir sind keine Gruppe von erfahrenen Antira- Aktivist*innen, sondern trafen uns vor Kurzem im Zuge der »Willkommenseuphorie« und merkten schnell, dass uns vor lauter »Helfen« die politischen Entwicklungen überrollten. Uns wurde klar, dass ohne eine politische Debatte mögliche Analysen und Perspektiven fehlten. Die brauch(t)en wir aber, da wir plötzlich Arbeiten und Aufgaben erledigten, die wir mit einem linksradikalen Selbstverständnis nicht vereinbaren konnten.
Deswegen luden wir zu einem Kongress ein. Wir wollten diskutieren. Und das vor allem mit den Migrant*innen selber. Wir wollten dieser überheblichen Perspektive des »Wir helfen euch Armen« entfliehen und die vergangenen wie die aktuellen Kämpfe von Migrant*innen, aber auch unsere eigenen, in den Mittelpunkt rücken und nach den Verbindungen dazwischen fragen.
Letztlich waren über den Tag verteilt 100 teils organisierte Leute aus Berlin und Brandenburg anwesend. Der Anteil von MigrantInnen war für unseren Erfahrungshorizont recht hoch. Inhaltlich bereiteten wir Thesen und Workshops vor, die in zwei Blöcken über den Tag hinweg parallel liefen.
Einstiegsthesen beim Kongress
1. Die Lagerverwaltung der „Refugees“ hat zwei Ziele: Selbstbestimmte Mobilität von Migrant*innen zu unterbinden, um sie effizient zu registrieren und zu kategorisieren. Gleichzeitig werden sie in einen Status gezwungen (Duldung), in dem sie selbst mobil und flexibel jede Arbeit annehmen müssen. Gelingt ihnen das nicht und es fallen staatliche Kosten an, droht Abschiebung.
2. Vor 25 Jahren gab es bereits eine Verschärfung der Asylgesetze in Deutschland. Die dort erprobten Maßnahmen wurden 10 Jahre später mit den Hartz-Gesetzen in der Breite umgesetzt. Was für die damaligen Asylbewerber*innen an Lebens – Arbeitsbedingungen galt, sollte später für weite Teile der »unteren Berufsgruppen« (auch viele radikale Linke) gelten.
3. Weder gegen die Asylrechtseinschränkungen noch gegen die Hartz-Gesetze gab es erfolgreichen Widerstand, denn soziale oder berufliche Gruppen kämpften politisch isoliert voneinander: Student*innen gegen die Bedingungen an der Uni, Hausbesetzer*innen in ihren Immobilien, die Erzieher*innen & Lehrer*innen in Schule und Kita, die Industriearbeiter*innen in den Fabriken, die von Hartz IV Drangsalierten montags auf der Straße, der Einzelhandel im Supermarkt, die Bahner*innen auf dem Bahnhof und die Migrant*innen gegen Residenzpflicht, Sachgutscheine, Lagerhaltung und Abschiebungen.
4. Die aktuelle Situation stellt uns vor eine ähnliche Entwicklung mit dem Unterschied, dass wir es nicht mit bundesdeutschen, sondern mit weltweiten Verschärfungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu tun haben.
5. Wir müssen aus den letzten 25 Jahren viel lernen. Zwei Dinge ganz besonders: Dieser Staat kennt nur die kapitalistische Logik. Diese zeigt sich überall: In Waffenexporten, Kriegen, unternehmerischer Lagerverwaltung von Migrant*innen, in den Reformen des Bildungswesens und des Arbeitsmarktes, … Wir müssen uns klar von dieser Logik der Verwaltung und Inwertsetzung distanzieren. Wir können nicht als Verwalter*innen für diesen Staat auftreten. Wir können uns nur auf Augenhöhe begegnen, die zunehmende Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt rücken und wieder gemeinsam kämpfen.
Workshops
1. »Experiences in self-organization in Syrian/Kurdistan«
Die »Refugees« sind keine Opfer. Sie sind Subjekte ihrer Geschichte. Die Anschläge in Paris zeigen die Ausweitung des »War on terror« vom Süden in den Norden. Lasst uns aus Syrien lernen, wie sich in solchen Zeiten politisch organisieren lässt.
2. »Experiences in breaking through the croatian border«
Die Erfahrungen in Potsdam zeigen, wie schnell wir in staatliche Strukturen gezogen werden. Eine antistaatliche Organisierung ist nötig. Die Unterstützung an der kroatischen Grenze setzte sich explizit über staatliche Politik hinweg. Aber hat diese Art von Politik ein Perspektive?
3. »Migrant House occupations — a subversive answer or institutionalization?«
Hausbesetzungen eröffnen meist autonome Räume. Erfahrungen aus Italien zeigen jedoch, dass angesichts massiver Wohnungsnot diese Räume nicht per se unabhängig bleiben.
4. »‘Industry of welfare’ of DRK, Caritas, AWO and Co.«
Viele Leute versuchen politische Arbeit mit und für »Geflüchtete« zu leisten. Problematisch ist, dass sie meist gefangen sind zwischen dem Zwang Geld zu verdienen und der kommerziellen Verwaltung von »Geflüchteten«. Die politische Handlungsfähigkeit in solchen Strukturen ist stark begrenzt, nicht wenige verausgaben sich und vereinzeln.
5. »Administration of concurrence — ‘Life’ & Work between ‘Duldung’ & Deportation«
Lohnarbeit ist für »Geflüchtete« die einzige Chance dem Duldungsstatus zu entkommen. Andernfalls droht ihnen die Abschiebung. Zu welchen Arbeitsbedingungen lassen sich die Leute ausbeuten und was hat dies mit den Arbeitsverhältnissen allgemein zu tun?
6. Interregional Mobilization in the Lager
Abschließend stellt sich die folgende Frage: Wie lässt sich mit verstreuten, mehr oder minder organisierten Gruppen gemeinsam politisch handeln? Die Lagerverwaltung ist ein überregionaler Mechanismus, dem wir nur überregional begegnen können.
Zusammenfassung des Feedbacks zum Kongress
Der DIY Charakter des Kongresses sollte eine Ansage sein. Wir wollten ohne Anträge bei irgendwelchen Stiftungen auskommen und auch vermeiden, dass wir uns finanziell ein riesiges Gerüst aufbauen, was uns dann zu bestimmten Formen zwingen kann. Wir wollten sagen: »Hey jede*r kann so einen Kongress ins Leben rufen!«
DIY war aber auch eine Notlösung. Die Vorbereitungsgruppe blieb sehr klein und die Potsdamer Szene konnte trotz ihrer großen Aktivität innerhalb der »Willkommenseuphorie« weder in die Vorbereitung einbezogen noch zur Teilnahme bewegt werden. Dies hat zwei Gründe. Die aktiven Leute sind mit Arbeit und Verantwortung überschüttet und finden keine Zeit für eine politische Auseinandersetzung. Und unsere Idee die politischen Küchentische zu mobilisieren, war eine Illusion. Wir verzichteten bewusst auf Einladungsbündnisse, die in unseren Augen nur Marketing- oder Lippenbekenntnisse sind, sondern sprachen gezielt Wohngemeinschaften an. Wir erhoff(t)en uns eine Debatte unter kritischen Menschen und nicht unter Politiker*innen.
Die Übersetzung während des Kongresses war für uns die größte Herausforderung und hat nur teilweise geklappt. Wichtig war mehrsprachig einzuladen und Englisch als Hauptsprache zu nutzen. Da gerade die älteren Brandenburger*innen, zum Teil aber auch Migrant*innen (die die ganze Zeit drangsaliert werden Deutsch zu lernen) dies nicht gewohnt sind, mussten wir spontan auch andere Lösungen finden. Zwei Dinge haben wir dabei gelernt: 1. Eine gut vorbereitete Moderation ist wichtig, die nicht nur einen Blick für den Inhalt, sondern vor allem für die Leute in der Runde hat. 2. Alle Menschen sollten sich über ihre (nicht) vorhandenen Sprachkenntnisse bewusst sein und im Zweifelsfall Freund*innen mitbringen, die mittels »stiller« Übersetzungen in Diskussionen und Workshops aushelfen können.
Beim Kongress ist sehr deutlich geworden, dass es ein Bedürfnis zu diskutieren gibt. Wir waren überrascht, wie viele Leute bereits am Samstag Morgen teilnahmen. Die Inhalte der Workshops stießen auf positive Resonanz, wobei die eingangs gestellten Thesen nur teilweise inhaltlich bearbeitet wurden. Dies hat vorrangig mit dem »Kommen und Gehen« über den Tag hinweg zu tun und führte letztlich auch zu einer Überforderung im Abschlussplenum. Teilweise wurde beklagt, dass wir nicht zielorientiert auftraten, sondern das Treffen offen formulierten. Wir wollten keinen großen Kongress mit Perspektive anbieten, sondern einen »Stich ins Wespennest« wagen. Rückblickend hätten wir es inhaltlich nicht so breit fächern müssen. Deswegen spitzen wir nun die uns wichtigen Punkte zu. Denn es gibt Redebedarf, es gibt ähnliche Kongresse und es gibt politische Entwicklungen, die wir nicht hinnehmen werden!
Weiter im Stoff – die »eigene Rolle« hinterfragen
Lager abschaffen!
Ausgangspunkt unserer Zweifel und Fragen waren die spezifische Erfahrung und die Beobachtungen, welche wir an unterschiedlichen Stellen in Potsdam machen mussten. Hier zeigte sich zuerst innerhalb der hauptsächlich von der linken Szene in wenigen Tagen aufgebauten Außenstelle der Erstaufnahme, wie schnell wir in staatliche Strukturen gezogen werden und uns plötzlich in der Rolle der Knastaufseher wiederfinden. Kurz darauf bescherte uns die Diskussion um die Errichtung von Leichtbauhallen auf dem Gelände des alternativen Kulturzentrums freiLand die bittere Erkenntnis, dass die Stadtverwaltung bewusst dieses Gelände gewählt hat, in der nicht unbegründeten Hoffnung, dass sich die dortigen Aktiven als dankenswerte Steigbügelhalter_innen eines repressiven Asylsystems erweisen werden. Ähnliche Fälle der Unterbringung in unmittelbarer Nähe zu linken Zentren wurden auch aus anderen Städten berichtet.
Von Lagern außerhalb Deutschlands vermittelte der Workshop zu Erfahrungen an der kroatischen Grenze einen Eindruck. Was als antistaatliche, grenzüberwindende Aktion begann, wurde schnell von sogenannten Sachzwängen bestimmt. Statt politisch frei agieren zu können, wurde man immer wieder auf eine rein versorgende Unterstützung zurückgeworfen. Zudem ließ sich in den drei vor Ort besuchten Lagern folgendes Dilemma formulieren: Während es auf der einen Seite Lager gibt (bspw. Presova/Slowakei), in dem eine chaotische Lage und schlechte hygienische Situation herrscht, aber die Migrant*innen eine mehr oder weniger uneingeschränkte Bewegungsfreiheit haben, existieren auf der anderen Seite Lager (bspw. Dobova/Slowenien), in denen eine erstklassige (auch humanitäre) Infrastruktur und grundlegende Versorgung sicher gestellt ist. Allerdings ist dieses Lager komplett militarisiert und abgeriegelt. Es gibt keine selbstbestimmte Bewegungs- und Handlungsfreiheit.
Unabhängig von den jeweiligen Bedingungen in Lagern und Heimen erweist sich eine politische Mobilisierung in diesen Strukturen als kaum durchführbar. Im Workshop zur interregionalen Lagermobilisierung wurden diesbezüglich kontinuierliche Anstrengungen und Misserfolge der letzten Jahre geschildert. Als besondere Hindernisse wurden die oft schwer erreichbare geografische Lage, die Zugangsverweigerung durch die jeweiligen Betreiber, die starke Fluktuation der Bewohner*innen sowie deren prekäre Lebensumstände benannt.
Als naheliegende Alternative zur Schaffung von freiem, kollektivem Wohnraum gab/gibt es in Potsdam die Idee leer stehende Objekte einer sinnvollen Nutzung zuzuführen. Dafür wollen wir an bereits gemachte Erfahrungen anknüpfen.
Häuser besetzen!
Nicht nur in Italien und Frankreich werden seit Jahren wieder Häuser besetzt, auch in der BRD gibt es wieder Besetzungen. Die Motivation hierfür ist jedoch sehr unterschiedlich. Der Nenner scheint die Migration zu sein. Uns war es wichtig, aus der jüngeren Vergangenheit zu lernen, das »Rad nicht neu zu erfinden« und vor allem nicht bereits begangene Fehler zu kopieren. Hierfür haben wir Erfahrungen von italienischen Hausbesetzungen gesammelt und Leute von der Besetzung in der Ohlauer Straße (Berlin) eingeladen.
Die italienischen Erfahrungen lassen sich in drei Strängen fassen. 1. Die alten besetzten Strukturen sind überfordert oder existieren nicht mehr. Migrant*innen nutzen seit Jahren die Räumlichkeiten, privatisieren diese aber gleichzeitig. 2. Neue Besetzungen werden meist von Linken initiiert und dann für die Migrant*innen geöffnet. Meist geht es hier um die Legalen, die in Italien den kleineren Anteil unter den Migrant*innen ausmachen. Die Häuser sind offiziell besetzt, werden geduldet und italienische Vereine übernehmen dann im Einklang mit dem Staat/der Stadt die »Verwaltung« der Leute. Das heißt, es gibt Geld vom Staat für die Integration der Asylsuchenden. Dies aber nur über den Umweg italienischer Träger. Diesen Job übernehmen meist die Besetzer*innen, also Sprachkurse, Rechtshilfe, Beratung, etc. Hierbei kommt es auch zu Überschneidungen mit der Mafia, die ebenfalls daran verdient. 3. Es gibt Armutsbesetzungen, die oft mit erst kürzlich verarmten Italiener*innen, denen nichts anders übrig bleibt, gemeinsam stattfinden, wobei es weder eine kollektive noch eine wirkliche politische Perspektive gibt. Die Häuser sind oft gut verwaltet und werden von staatlicher/städtischer Seite geduldet.
Die Schulbesetzung in der Ohlauer Straße in Berlin ist drei Jahr her. Im Zuge des Protestcamps auf dem Oranienplatz wurde aufgrund der Wetterlage eine leerstehende Schule besetzt. Es wurde ein festes Gebäude zum Schlafen gebraucht. Die Schule wurde besetzt, der Bürgermeister wurde angerufen und mit dem Kälteschutz-Argument konfrontiert. Das hat funktioniert. Es war eine Doppelbesetzung. Der Hauptteil der Schule war als Unterkunft gedacht, ein kleinerer Teil, ein Pavillon als politischer Aktionsraum. Die Idee ist jedoch nicht aufgegangen, da plötzlich über 300 wohnungslose Menschen meist in Familienzusammenschlüssen kamen, die keinen Beitrag zum vorherigen (oder nachfolgenden) politischen Kampf leisteten. Das hat alle komplett überfordert.
Die Besetzung war keine rechtliche, sondern eine politische Frage. Ein Jahr lang wollte der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg Regeln bestimmen und einführen. Gleichzeitig hat der Bezirk auf Zuspitzung und Eskalation gesetzt. Das hat funktioniert, es kam zwangsläufig zu Streit und einem Toten. Im Zuge dessen gab es mehr Security auf dem Gelände, die die Leute voneinander isolierten, vor allem die Aktivist*innen mit deutschem Pass von denen ohne.
Es sollte ein Haus geöffnet und politische Gruppen eingeladen werden. Das hat nicht funktioniert. Denn schnell war der Großteil des Hauses eine Notunterkunft, in der die individuellen Probleme der Leute wichtiger waren als die politische Dimension, in der sie entstehen. Letztlich haben die Aktivist*innen mit und ohne Migrationserfahrung sehr darunter gelitten, weil sie in eine Situation rutschten, die sie nicht mehr unter Kontrolle hatten, aber auch nicht einfach aufgeben konnten. Ein ähnliches Beispiel des Ausgeliefertseins an scheinbare Sachzwänge wurde aus Frankreich berichtet, wo die Besetzer*innen eines Hauses, das als Frauenschutzraum gedacht war, sich letztlich unfreiwillig als 24/7‑Einlasskontrolleur*innen wiederfanden. Fazit: Es muss sofort von Anfang an um politische Standards gehen. Ein ausschließlich humanitärer Anspruch reicht nicht aus! Denn wohin augenscheinlich »humanitäre« Arbeit ohne politischen Anspruch führt, zeigt uns in makabrer Art und Weise die »Wohlfahrtsindustrie«, die sich derzeit ganz besonders an der Verwaltung von Migrant*innen labt.
»Wohlfahrtsindustrie«? Ohne uns!
»Refugees« sind momentan ein großes Geschäft: Milliarden Euro fließen in Unterbringung, Versorgung, Gebäudereinigung, Sicherheitsdienste, Baugewerbe, Verwaltung, Bullen, Aufrüstung, Sprachkurse, “Staats-Antifa”, Lehrer*innen, Erzieher*innen, etc.
Viele profitieren massiv von der sogenannten »Flüchtlingskrise«. Viele, nur nicht die Betroffenen selbst. Zu den Profiteuren gehören als gemeinnützig eingestufte und private Träger von »Flüchtlings«unterkünften, z.B. das Diakonische Werk, die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas, das Deutsche Rote Kreuz und andere. Es ist wichtig zu erkennen, dass es sich hierbei um Unternehmen handelt, deren Umsätze in Millionen gerechnet werden. Jedes einzelne funktioniert mit Hunderttausenden Hauptamtlichen sowie der Unterstützung von mindestens ebenso vielen (meistens jedoch mehr) Ehrenamtlichen. Insgesamt arbeiten für Caritas und Diakonie zusammen, circa 1 Million Menschen. Damit sind sie, nach dem Staat, der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Dabei schlagen diese Unternehmen nicht nur aus Freiwilligen und Angestellten Profit, sondern auch aus den Menschen, die sie »betreuen«. Solche Verbände stellen sich gern als »Wohltäter_innen« dar. Besonders aktuell versuchen sie als »soziale Versorger_innen« von Migrant_innen zu punkten.
In Bund und Ländern werden derzeit Haushalte überarbeitet, um Geld für die »Bewältigung« der sogenannten »Krise« bereitzustellen. Das Geld wandert dann – zumeist über Pauschalen – vom Bund über die Länder und Kreise zu den Kommunen. Verantwortlichkeiten und Gelder werden hin- und hergeschoben bis zur absoluten und scheinbar forcierten Undurchsichtigkeit. Auch bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen wird mittlerweile auf Ausschreibungsstandards verzichtet. Ein Schelm, wer Vetternwirtschaft unterstellt.
Abgesehen von den nur schwer nachvollziehbaren Geldströmen fungieren Träger von »Flüchtlings«unterkünften schlicht als verlängerter Arm des Staates. Sie erfüllen einen staatlichen Auftrag, d.h. Lagerhaltung, Kontrolle, Repression und Ermöglichung von Abschiebung. Es ist eine Irrtum zu glauben, ein menschlicherer Umgang mit den »Geflüchteten« würde daran etwas ändern. Kein*e noch so nette*r Sozialarbeiter*in kann die fehlende Bewegungsfreiheit wett machen oder die Tatsache kompensieren, dass Menschen, die in Deutschland als »Geflüchtete« gelabelt werden, kaum Rechte haben. Selbst wenn Menschen hier im Heim ein paar angenehme Monate haben sollten, in Zeiten von Massenabschiebungen ist das nicht von Bedeutung.
Polemisch gesprochen spielen komfortable Gemeinschaftsunterkünfte mit engagiertem Personal eine noch perfidere Rolle, denn sie verhindern im Zweifelsfall, dass sich die Betroffenen ihrer Entmachtung und Inhaftierung gewahr werden und die Kurve kratzen.
Nun stehen wir vor einer Situation, in der viele Menschen, die sich eigentlich linken und linksradikalen Positionen verpflichtet fühlen, beginnen für solche Träger der Wohlfahrtsindustrie zu arbeiten, in dem Irrglauben, sie täten etwas Gutes.
In diesen Strukturen ökonomisch abhängig zu arbeiten, führt zu einer krassen Reduktion individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit.Ein gleichberechtigtes solidarisches Verhältnisses der »Betreuungsperson« zu den »zu betreuenden« Menschen, in diesem Fall Migrant*innen, ist, strukturell bedingt, nicht möglich.
Neben den ökonomischen Vorteilen, welche die staatliche Struktur aus den Netzwerken von Ehrenamtlichen oder schlecht bezahlten, aber engagierten Angestellten zieht, gibt es auch ein großes Interesse an dem Wissen, das in linken Netzwerken und Supportgruppen vorhanden ist.
Indem der Staat ehemals außerstaatliche oder gar antistaatliche Strukturen bezuschusst, zum Beispiel durch Projektfonds, und in die regionalen Verwaltungs- oder Bildungsprogramme einbindet, erhält er aus erster Hand Einblicke in bestimmte Zusammenhänge, die ihm sonst verwehrt bleiben würden. Mit der »Staats-Antifa« Initiative um das Jahr 2000 wurden autonome Antifa-Strukturen angegriffen und nachhaltig geschwächt. 15 Jahre später haben wir es mit der Neuauflage dieses Prinzips, sprich mit einer »Staats-Antira«-Offensive zu tun.
Die Bild-Zeitung titelt »Refugees Welcome«, während über Nacht sämtliche Errungenschaften der selbstorganisierten Kämpfe von Migrant*innen zunichte gemacht werden und das repressivste Asylgesetz in der Geschichte der BRD verabschiedet wird. Hunderttausende Freiwillige übernehmen die Erstversorgung der Neuankommenden und ersparen den lokalen Behörden jede Menge Kosten, während die Menschen von nun an nur entsprechend wirtschaftlicher Verwertbarkeit sortiert werden sollen. Die Rolle der Sozialarbeiter*innen in diesem Kontext ist wieder einmal Befrieden und Verwertbarmachen.
In der Konsequenz kann die Zielvorstellung nur lauten: Heime und Lager abschaffen, Grenzen öffnen, Bewegungsfreiheit für alle.
Genau das sind die Forderungen, die seit Jahrzehnten von selbstorganisierten Migrant*innengruppen formuliert werden und im gesellschaftlichen Diskurs allgemein, aber auch in innerlinken Debatten ungehört untergehen. Viele von uns haben weder Kenntnisse über die Selbstorganisationsstrukturen noch Kontakte zu Migrant*innen(-gruppen). Demzufolge muss der erste Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen, solidarischen Agieren jetzt erst einmal die Auseinandersetzung mit den bisherigen migrantischen Kämpfen sowie den existierenden Gruppen sein.
Wenn sich linke Menschen trotzdem entscheiden, in die geschilderte Verwaltungsindustrie einzusteigen, müssen sie sich sowohl der Verwertung ihrer Arbeitskraft und ihres Wissens, als auch der möglichen Konsequenzen für ihre politischen Aktivitäten bewusst sein. Sozialarbeit ist meistens Lohnarbeit zu extrem schlechten Bedingungen, die wiederum zu miserablen Konditionen in der jeweiligen Einrichtung führen. Aus diesem Teufelskreis können wir nur ausbrechen, indem die gesamte Logik der staatlichen Flüchtlingsverwaltung – und dazu gehört auch die entsprechende Lohnarbeit/Verwertbarmachung des Menschen – in Frage gestellt wird.
Arbeit verweigern!
Hierbei kommen wir nicht an der Frage vorbei: Wie verdiene ich meine Brötchen?
In Vorbereitung zu einem Workshop haben wir Menschen mit und ohne deutschen Pass zu ihren Möglichkeiten Geld zu verdienen interviewt. Für uns war die These zentral: Die Lagerverwaltung der »Refugees« hat zwei Ziele: Selbstbestimmte Mobilität zu unterbinden, um sie effizient zu registrieren und zu kategorisieren. Gleichzeitig werden sie in einen Status gezwungen (Duldung), in dem sie selbst mobil und flexibel jede Arbeit annehmen müssen. Gelingt ihnen das nicht und es fallen staatliche Kosten an, droht ihnen die Abschiebung.
Wir sprachen länger über das Wechselspiel mit Arbeitsamt und Ausländerbehörde, welche Arbeitsvertragszeiten und Duldungszeiten koppeln. Teilweise führt die Bürokratie zu zirkulären Widersprüchen, da die Leute ohne Arbeit keine Duldung und ohne Duldung keine Arbeit bekommen. Das sind aber nur Randerscheinungen, konkret geht es darum, dass die Leute alle Jobs annehmen müssen, und die Unternehmen sie jederzeit wieder loswerden können. Anders als bei Deutschen, die dann einfach wieder zum Amt gehen (oft weil sie das System auch besser kennen) sind die Migrant*innen durch ihren Duldungsstatus zur Arbeit gezwungen. Erscheinst du nicht auf Arbeit, wird die Duldung nicht verlängert.
Das ist aber nur die eine Seite. Überraschend und neu waren für uns die Dimensionen der Illegalität. Sowohl bei der Registrierung als auch bei der Jobsuche. Das ist sicherlich kein neues Phänomen, aber es drängt sich die Frage auf, die wir auch an uns selber stellen können. In die Illegalität zu gehen bedeutet in die völlige Vereinzelung unterzutauchen. Eine Tatsache, die auch Linke, wenn auch auf einer anderen Ebene, kennen. Wie sollen vereinzelte Leute kämpfen?
Die Antwort müsste lauten: Indem sie über ihren Alltag überhaupt mal reden!
Allgemein glauben die betroffenen Menschen, dass sie durchhalten müssen, wenn nötig auch über Jahre, irgendwann wird es besser. Die Deutschen denken dabei oft an Karriereleitern, Migrant*innen ans schlichte Überleben und das bedeutet Geld zu verdienen.
Doch dieser Durchhaltewille ist eine Selbsttäuschung. Die derzeitige Politik von EU und BRD verfolgt keinen vorgefertigten Plan und ist zugleich auch kein Versagen gegenüber Krisenerscheinungen. Vielmehr zeigt sich eine Transformation des politisch-ökonomischen Systems, zu der man sich nicht nicht verhalten kann. Die stattfindenden Veränderungen drängen jede*n von uns zu einer klaren Positionierung – »Neutralität« ausgeschlossen.
Es wäre ein guter Zeitpunkt mal wieder gemeinsam nach dem »Oben« und »Unten« zu fragen und (gerade als Linke) unser Verhältnis zum Staat zu hinterfragen.
Eure Vorbereitungsgruppe »M. Pitsow« — Januar 2016
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