Am gestrigen Samstag jährte sich zum 65. mal der Jahrestag des einzigen größeren alliierten Luftangriffs auf Rathenow während des zweiten Weltkriegs, bei dem ungefähr 54 Menschen im Zuge der Bombardierung der regionalen Rüstungsbetriebe, vor allem der ARADO Kampfbomberproduktion im Ortsteil Heidefeld, ums Leben kamen und nun vom regionalen (neo)nazistischen Milieu als exemplarischer “Beweis” für “alliierte Kriegsverbrechen” zur Relativierung der nationalsozialistischen Schandtaten missbraucht werden.
Auf dem Dunckerplatz, unmittelbar vor dem Rathenower Hauptbahnhof und in Blickweite eines vom Aktionsbündnis “Rathenow zeigt Flagge” angebrachten Großflächenbanners mit der Aufschrift “Betteln und Hausieren verboten! — Nazis Raus”, fanden sich deshalb gestern 140 (Neo)nazis ein um den so genannten “alliierten Bombenterror” unter dem Motto “65 Jahren in Tränen” zu “gedenken”. Nach einer kurzen Auftaktkundgebung, bei der eine (Neo)naziaktivistin aus Nauen einen kurzen Redebeitrag hielt, zog der überwiegend schwarz gekleidete “Trauermarsch” in militärähnlicher Formation, unterheilt in einzelne Blöcke mit dreier und vierer Reihen und begleitet von, ähnlich wie bei vergleichbaren Aufmärschen in Magdeburg und Dresden, aus einem “Lautsprecherwagen” abgespielten klassischen Musik über den Friedrich Ebert Ring und die Fontanestraße zu einem Denkmal des “Bundes der Vertriebenen” (BdV) im Fontanepark.
Hier hielt der havelländische NPD Kreistagsabgeordnete und derzeitiger Vorsitzende des NPD Stadtverband Rathenow, Dieter Brose, einen ersten Redebeitrag in dem er die so genannten “Verbrechen” der Alliierten anprangerte und sich über die Demonstrationsauflagen der Versammlungsbehörde echauffierte. Scharf griff Brose auch mit den Worten: “Schande auf die Funktionäre des Bund der Vertriebenen” den BdV an, da dieser sich von den Aktionen der NPD distanzierte.
Eine am Denkmal ursprünglich geplante Kranzniederlegung wurde den (Neo)nazis durch die Absperrung des Objektes mit Bauzaun verwehrt.
Nach einer Schweigeminute marschierten die (Neo)nazis, unter, mit Slogans wie “Nazis raus” oder “Bunt statt Braun” bedruckten und an Straßenlampen angebrachten, Plakaten, die zusätzlich mit Bändern in den Farben Rot und Blau als Zeichen des Widerstandes ausgeschmückt waren, durch die Forststraße, die Goethestraße und vorbei an den lautstarken Protestbekundungen der ungefähr 150, von einem massiven Polizeiaufgebot bedrängten und hinter Absperrzäunen verfrachteten, Gegendemonstrant_innen auf dem Märkischen Platz, die Berliner Straße zum Postplatz.
Hier stellte sich der Demonstrationszug im Halbkreis vor der Hauptpost auf, um eine weitere Zwischenkundgebung durchzuführen. Zwar war dieser Ort nur als Ersatz für die durch die Versammlungsbehörde untersagte Veranstaltung auf dem Weinbergfriedhof festgelegt worden, hatte jedoch auch einen gewissen symbolischen Wert. Die NPD hatte nämlich im Vorfeld zahlreiche Flugblätter im Stadtgebiet von Rathenow verbreitet, auf denen das zerstörte damalige Postgebäude am gleichen Ort quasi als “Beweis” für den alliierten “Bombenterror” am 18. April 1944 dargestellt wurde.
Allerdings unterschlug die Partei dabei, dass das Objekt tatsächlich erst ein Jahr später bis auf die Außenwände verwüstet wurde, nach dem die nationalsozialistische Wehrmachtsführung Rathenow zur “Festung” erklärte und deren Artillerieeinheiten aus den umliegenden Stellungen im Abwehrkampf gegen die vorrückende Rote Armee die Stadt Salve um Salve zerschossen.
In Unkenntnis der tatsächlichen Stadtgeschichte, hielt dann der stellvertretende Vorsitzende des NPD Landesverbandes Brandenburg, Ronny Zasowk aus Cottbus, eine Rede, in der er fälschlicherweise den 18. April als den Tag beschrieb, an dem — in Hinwendung an die Zuhörer — “Ihre oder Eure Heimatstadt dem Erdboden gleichgemacht” wurde und darauf aufbauend die damalige Kriegsführung der “angloamerikanischen Kriegsverbrecher” beispielsweise mit der in Vietnam oder im Irak gleichsetzte. Nicht ohne Grund hatte deshalb auch hier das Aktionsbündnis “Rathenow zeigt Flagge” ein Großflächenbanner mit der Aufschrift “Biete Nachhilfe in Geschichte” angebracht.
Doch Zasowk ging es nicht allein um die Fälschung historischer Tatsachen. Er versuchte die damalige Kriegspolitik der Alliierten quasi als ethnische Säuberung darzustellen, bei der es angeblich um die “endgültige Zerstörung des deutschen Volkes ging”. “Millionen Deutsche mussten sterben”, so Zasowk in seiner Rede weiter, “weil es gewissen politischen und wirtschaftlichen Größen so in den Kram passte”. Und obwohl er hier keine Namen nennt, wird der antisemitische Charakter des Vortrages klar, wenn der Cottbusser NPD Mann plötzlich den “Bogen” in die heutige Zeit spannt, in der wieder “freier Völker” bedrängt werden, “weil sie sich weigern der judäiamerikanischen Geschehe des Marktradikalismus und des völkerzerstörenden Freihandels zuzustimmen”.
Nach einem weiteren revisionistisch und “Schlussstrich” geprägten Redebeitrages eines (Neo)naziaktivisten aus Teltow — Fläming marschierte der (Neo)naziaufzug weiter über die Brandenburger Straße, die Große Milower Straße, die Straße “Am Körgraben” sowie die Schopenhauerstraße, wo nochmals ein Großflächenbanner des Aktionsbündnisses “Rathenow zeigt Flagge” mit der Aufschrift “Und Tschüß!” angebracht war, zurück zum Bahnhof.
Vor dem Dunckerplatz Ecke Friedrich Ebert Ring, im Angesicht der Naziabschlusskundgebung vor dem Bahnhofsgebäude kam es dann noch zu einer spontanen Protestkundgebung von Punks, Antifas, Hoppern und Fans von Tennis Borussia Berlin, welche die (Neo)nazis hoffentlich auf nimmer wiedersehen verabschiedeten. Von den 140 (Neo)nazis kamen nämlich nur 29 aus dem Westhavelland, die restlichen kamen aus Brandenburg/Havel, Havelsee, Kloster Lehnin, Nauen, Neuruppin, Velten, Hennigsdorf, Potsdam, Cottbus, dem brandenburgischen Landkreis Teltow — Fläming sowie aus Sachsen Anhalt (Stendal, Weteritz und Klötze) und Berlin.
Das dieser gewünschte Abschied von (neo)nazistischen Umtrieben aber kurzfristig eine Illusion bleibt, ist wahrscheinlich eher die Realität. Das (neo)nazistische Milieu scheint nämlich bestrebt zu sein, den 18. April als festen Termin, neben ähnlichen Aufzügen in Magdeburg und Dresden, in ihrem Veranstaltungsplan zu etablieren. Seit geraumer Zeit reisen die Mitglieder des lokalen Milieus nämlich schon durch die Lande und insbesondere zu Veranstaltungen in den beiden genannten Städten um Kontakte mit der bundesweite (Neo)naziszene zu verfestigen. Während der dortigen Aufzüge, wie auch bei dem gestrigen in Rathenow, werden dann Banner gezeigt, welche die Bombenangriffe von Magdeburg und Dresden in einer Reihe mit dem Rathenower Luftangriff stellen.
Das (neo)nazistische Milieu in Rathenow führt seit 2005 Gedenkveranstaltungen zum 18. April durch.