Am Samstag, den 5. April 2014, wollen Neonazis in der brandenburgischen Kleinstadt Wittenberge (Landkreis Prignitz) aufmarschieren und werben dafür jetzt auch mit einem eigenen Videoclip im Internet. Thema ist die sterbende Stadt, der „Volkstod“ und fünf junge Menschen, die dazu „Nein“ sagen möchten. Die jungen Leute gelten als führende Köpfe einer Neonazivereinigung aus dem 90km von Wittenberge entfernten Neuruppin (Landkreis Ostprignitz-Ruppin). Sie nennen sich dementsprechend „Freie Kräfte Neuruppin“. Und weil einige Personen der Gruppe auch aus Nauen (Landkreis Havelland) stammen, kommt zur Gruppenbezeichnung noch ein „Osthavelland“ dazu.
„Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“
Die Gruppe existiert unter der Bezeichnung „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“ (NSFKN) seit 2009, ihre Köpfe dürften aber bereits seit spätestens 2006 im neonazistischen Milieu aktiv sein. Im Neuruppiner Raum fielen die Protagonist_innen der Vereinigung erstmals während eines Neonaziaufmarsches am 1. September 2007 auf. Dieser wurde allerdings noch von der Querfront-Organisation „Kampfbund Deutsche Sozialisten“ (KDS) durchgeführt. Die NSFKN führten erstmals am 5. September 2009 einen eigenen Aufmarsch in Neuruppin durch, vier weitere sollten bis 2012 folgen. Seit 2011 wurden die versuchten Märsche durch die Stadt allerdings durch Gegendemonstrant_innen blockiert, so dass die Gruppe bereits am 1. Mai 2012 in die Neonazihochburg Wittstock/Dosse auswich. Dort wurde der geplante Aufmarsch allerdings ebenfalls durch antifaschistische Blockierer_innen aufgehalten.
Wittenberge und der „Volkstod“
Nun haben sich die „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“, dass noch weiter von Neuruppin entfernte Wittenberge für ihren Propagandamarsch auserkoren. Offenbar weil die Entwicklung der Stadt genau in das Muster der „Volkstod“-Kampagne des neonazistischen Spektrums von „Freien Kräften“ bis zu „Junge Nationaldemokraten“ (JN) passt. So sank die Einwohnerzahl von Wittenberge von 33.279 im Jahr 1977 auf 27.956 im Jahr 1990 und schließlich 17.476 im Jahr 2012. Dazu kommt die de facto Deindustrialisierung der Stadt durch wirtschaftsbedingte Schließungen der großen Betriebe, seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.
„Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Vergreisung und Armut – und ihr? Ihr redet von Aufschwung?“, fragt deshalb NSFKN-Führer Marvin Koch im eingangs erwähnten Videoclip und macht sich scheinbar zum Anwalt der nicht abgewanderten Prignitzer_innen. Er selbst ist aus dem Neuruppiner Raum nach Pritzwalk, ebenfalls im Landkreis Prignitz, gewandert und versucht dadurch regional glaubhafter zuwirken. Aber wie glaubhaft ist Marvin Koch tatsächlich, wenn er beispielsweise am 17. November 2013 in Hennigsdorf (Landkreis Oberhavel) eine Demonstration zur Verherrlichung eines verurteilten NS-Kriegsverbrechers durchführt oder bei einem Nazikonzert am 12. Oktober 2013 in Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) derart auffällt, dass nun gegen ihn wegen Landfriedensbruch ermittelt wird?
Überhaupt scheinen die Aussagen im Videoclip nur die halbe Wahrheit zu sein. Denn dem im Video angesprochenen „Volkstod“ abzuwehren, bedeutet im neonazistischen Sinne eben nicht nur den demografischen Wandel durch mehr Geburten oder wirtschaftlichen Aufschwung entgegenzuwirken, sondern ganz klar auch Migrant_innen oder Menschen mit migrantischen Wurzeln, aus rassistischen Gründen wieder zu verdrängen. Diesbezüglich bewerben die „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“ im Internet auch eine Kampagne „Minderheit 2030“, die nach dem Jahr benannt ist, in dem das „deutsche Volk“ angeblich zur Minderheit im „eigenen Land“ wird. Migrant_innen werden dabei in verschwörerischer Weise als Mittel korrupter Politiker dargestellt, die das „deutsche Volk“ aus seinem angeblich „gewohnten Lebensraum“ verdrängen wollen, frei nach der Spreelichter-Parole „Die Demokraten bringen uns den Volkstod“. Dieser Phobie liegt ein völkisches Nationenbild zu Grunde, das nicht eine Verfassung oder Kultur als gemeinschaftliches Bindeglied einer Gesellschaft sieht, sondern eine auf gemeinsame „Abstammung“ begründete, de facto also inzestöse „Volksgemeinschaft“ idealisiert und diese auch noch gegenüber anderen Menschengruppen überhöht. Migrant_innen, die eigentlich der Entvölkerung von Landstrichen, wie der Prignitz, entgegenwirken könnten, werden von den Neonazis hingegen als Bedrohung für ihren fantasierten „Volkskörper“ angesehen und deshalb meist, wie in der aktuellen Anti-Asylkampagne der NPD, pauschal mit dem Attribut „kriminell“ abgewertet und immer wieder angefeindet.
Insofern wird dann auch klar wie die entschärfte Aussage „Es ist unsere Pflicht nicht nur in der Prignitz ein Recht auf Zukunft zu fordern und für Familien und heimatbewusste Politik einzustehen“ von Dave Trick (NSFKN, ebenfalls dem eingangs erwähnten Videoclip entnommen) tatsächlich zu verstehen ist, nämlich nicht als Aufbruch zu Gunsten des Aufschwungs in Wittenberges, sondern als klares Bekenntnis zum Widerstand gegen die multikulturelle Gesellschaft in der gesamten Bundesrepublik. Trick könnte hier übrigens nicht nur für die NSFKN sprechen, sondern auch in seiner Funktion als Leiter des NPD Ortsbereiches Neuruppin.
NPD und „Freie Kräfte“ in der Prignitz
Dies eröffnet auch eine neue Dimension in der Wahl des Demonstrationsstandortes Wittenberge. Denn hier bzw. in der nahen Umgebung, ja der gesamte Landkreis Prignitz, war bis 2004 eine Hochburg der NPD. Selbst der damalige Brandenburger NPD-Landesvorsitzende, Mario Schulz, wohnte nur 6km von Wittenberge entfernt. Nach dem auf einem Parteitag jedoch ein Kandidat mit migrantischen Wurzeln für die Europawahl 2004 aufgestellt wurde, trat der komplette Kreisverband Prignitz-Ruppin aus der NPD aus und gründete die seit Ende der 2000er Jahre inaktive „Bewegung Neue Ordnung“. Die neonazistische Partei war diesen Leuten nicht mehr rassistisch genug.
Seitdem die NPD, jüngst auch wieder nach dem Rücktritt Holger Apfels als Parteivorsitzender, sich immer weiter dem neonazistischen Spektrum öffnet, sucht sie auch erneut in der Prignitz Fuß zu fassen. Bereits im letzten Jahr führten Parteifunktionäre deshalb im Mai 2013 eine Kundgebung in Perleberg durch, weitere Aktionen dürften im Vorfeld der Wahlen zu den Europa‑, Kommunal- und Landesparlamenten folgen.
Zumindest im jüngeren Neonazispektrum können die Nationaldemokraten dabei möglicherweise auf Unterstützung hoffen. Denn mit Marcel Kr. und Thomas B., welche die Partei 2013 in Perleberg unterstützten, hat die NPD bereits Sympathisanten in Wittenberge gefunden. Beide stehen übrigens auch im engen Kontakt zu den „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“ und laufen seit spätestens 2010 bei deren Aufmärschen mit. Während B. gern im Lifestyle des „Autonomen Nationalisten“ auftritt und dem Umfeld der zurzeit inaktiven Neonazivereinigung „Freundeskreis NSPR“ zuzurechnen ist, ist Kr. der Oldschool Bonehead. Ein Foto in der Recherche-Zeitschrift “Fight Back 04 – Mai 2009” (S. 16) zeigt ihn im Gefolge der Berliner „Kameradschaft Spreewacht“, einer Naziskin-Vereinigung. Des weiteren hält er Kontakt zu Neonazis in Sachsen-Anhalt und marschierte dort u.a. bei Aufmärschen in Stendal mit.
Während des diesjährigen „Trauermarsches“ in Magdeburg, trat Kr. auch im Gefolge der „Freien Kräfte Prignitz“ auf. Diese Vereinigung trat dort das erste Mal in Erscheinung. Da Kr. und B. im Verlauf des letzten Jahres vor allem aber zusammen mit den „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“ auffielen, während eines Aufmarsches am 1. Juni 2013 in Wolfsburg (Niedersachsen) sogar als „Freie Kräfte Neuruppin & Wittenberge“, liegt es Nahe, das beide auch maßgeblich in den „Freien Aktivisten Wittenberge“ aktiv sind, die ebenfalls zu dem Aufmarsch in Wittenberge aufrufen. Sie bilden somit das Sprungbrett der „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“ in die Prignitz.
NSFKN Warm Up Kundgebung am 29. März 2014
Dies zeigte sich auch am gestrigen Samstag in Wittenberge. Dort führten zehn Neonazis, darunter Dave Trick, Marcel Kr. und Thomas B., unter der Bezeichnung „Frei Kräfte Neuruppin / Prignitz“ eine Werbeveranstaltung für den geplanten Aufmarsch durch.
Auch wenn ca. 30 bis 40 Menschen gegen die Kundgebung (Fotos hier: Presseservice Rathenow und Sören Kohlhuber) protestierten, scheinen die Neonazis auch weiterhin bestrebt, sich in Wittenberge und in der Prignitz auszubreiten zu wollen.
Wittenberge Nazifrei
Für Antifaschist_innen ist es deshalb wichtig der weiteren Vernetzung des nordwestbrandenburgischen Neonazimilieus bereits frühzeitig entgegenzuwirken. Sollte der geplante Aufmarsch am 5. April widerspruchslos durch Wittenberge ziehen, dürften weitere folgen. Denn die Stadt wirkt wegen ihrer strategischen Lage als Verkehrsknotenpunkt zwischen Hamburg, Berlin, Schwerin und Magdeburg sowie in der unmittelbaren Nachbarschaft von vier Bundesländern wie ein Drehkreuz für aktionsorientierte Vereinigungen. Dies hatte sich bereits bei den neonazistischen Spontanaufzügen am 2. Juni 2007 und am 1. Mai 2009 gezeigt, als im ersten Fall 200 und im zweiten Fall ungefähr 50 Neonazis recht schnell hintereinander erst spontan in der Stadt und dann in weiteren Orten in Sachsen-Anhalt aufmarschierten.
Sowohl die Zivilgesellschaft in Wittenberge als auch ein überregionales Bündnis und die Antifa planen deshalb Aktionen anlässlich des geplanten Aufmarsches am 5. April. Im Focus steht dabei das Gelände um den Bahnhof, der den Neonazis ab 12.00 Uhr als Aufmarschpunkt dienen sollen. Die Bündnisse „NoNazis Wittenberge“ und “Wittenberge Nazifrei” mobilisiert bereits ab 9.00 Uhr zu Blockaden. Die Stadt Wittenberge und das örtliche Bürgerbündnis veranstalten ab 12 Uhr ein Bürgerfest für Toleranz unter dem Motto “Schöner Leben ohne Nazis” und weitere Aktionen in der Innenstadt. Darüber hinaus sind zusätzliche Kundgebungen gegen die Neonazis im Stadtgebiet geplant, um den Protesten möglichst viel Ausdrucksfläche zugeben.
Infostruktur zum 5. April
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