Am 27.6.02 veröffentlichte der Tagesspiegel auf Seite drei eine Reportage der
Journalistin Hanna Kolb. Diese hatte zu den Umständen der Ermordung des
Russlanddeutschen Kajrat B. (24) in Wittstock (Brandenburg) recherchiert, der in der
Nacht vom 3. auf 4. Mai diesen Jahres von deutschen Tätern schwer zusammengeschlagen
worden und nach knapp drei Wochen seinen inneren Verletzungen erlegen war. Auch wenn
die inzwischen gefassten Täter nicht zur organisierten rechten Szene Wittstocks
gehören, geht die Staatsanwaltschaft, nach Angaben ihres Pressesprechers, von einem
“fremdenfeindlichen Motiv” aus. Frau Kolb lässt in ihrer Reportage
Familienangehörige des Toten zu Wort kommen. Auch mit anderen Mitglieder der
russlanddeutschen Gemeinde sowie mit Vertretern der Kommune und der Polizei scheint
sie gesprochen zu haben. Ein ansehnliches Stück Recherche — könnte man meinen — und
dann auch noch im Tagesspiegel, einer Zeitung, die für ihre fundierte und gut
recherchierte Berichterstattung bekannt ist. Der Schein trügt.
Ca. eine Woche vor Veröffentlichung des Artikels erhielt der Verein
Opferperspektive, der sich um Opfer rechtsextremer Gewalt in Brandenburg kümmert,
einen Anruf aus Wittstock. Nichts ungewöhnliches, denn für besagten Verein ist
Wittstock und die dort lebenden Russlanddeutschen in den letzten Monaten zu einem
Schwerpunkt der Arbeit geworden. Zu den dort betreuten Opfern zählt auch die Familie
von Kajrat B.. Trotzdem war der Anruf eher ungewöhnlich. Die Mutter des Verstorbenen
wollte wissen, was sie denn mit einer Journalistin tun solle, die sich auf die
Opferperspektive berufend, selbst eingeladen hätte und keine Anstalten mache zu
gehen. Falls sie nicht den Wunsch habe, ein Interview zu geben, empfahlen wir der
Familie, die Journalistin, deren Namen Hanna Kolb war, vor die Tür zu setzen. Und so
geschah es auch. Eine tüchtige Schmierenkomödie und dies auf Kosten von Menschen,
die sich nach wie vor in einem Schockzustand befinden. Die Episode wäre
wahrscheinlich vergessen, wäre die Reportage von Frau Kolb nicht im Tagesspiegel
abgedruckt worden. Nicht nur, dass Frau Kolb einen unseriösen Recherchestil zu
pflegen scheint, ihre gesamte Reportage ist ein Ausbund an Sensationsjournalismus.
So lässt einem schon die Überschrift nichts Gutes erwarten: “Hass, zwangsläufig”, so
ist da, eher unverständlich, zu lesen. Darüber, in kleineren Buchstaben, eine kurze
inhaltliche Zusammenfassung mit dem abschließenden Satz: “Weil die Polizei nichts
tut, üben die Aussiedler jetzt Selbstjustiz”. Der Begriff lässt aufhorchen und
schaudern zugleich. Als Beleg für ihre Behauptung muss zunächst der Bruder von
Kajrat B. herhalten. Seit er mehrere Male von Jugendlichen angepöbelt wurde und die
Polizei sich geweigert habe, eine Anzeige entgegen zu nehmen — so wird er indirekt
zitiert -, verlasse er sich, “lieber auf seine Fäuste als auf deutsche Polizisten”.
Die Realität ist jedoch anders. Einen Tag vor dem Angriff auf Kajrat B. unterstützte
der Verein Opferperspektive den Bruder des später Ermordeten, Jugendliche, die ihn
beleidigt und genötigt hatte, bei der Polizei anzuzeigen. Ein mutiger Schritt, wie
viele der anderen Russlanddeutschen in Wittstock finden und weit davon entfernt, das
Faustrecht in Anspruch zu nehmen, wie Frau Kolb dem jungen Mann unterstellt. Die
Kolbsche Argumentationslinie der “Selbstjustiz” erfährt jedoch gegen Ende eine
weitere Blüte. In Wittstock, so ihre Analyse, “ist offenbar ein rechtsfreier Raum
entstanden”. Die Rede ist von der Siedlung am Rande der Stadt, wo — und dies ist
richtig — viele der russlanddeutschen Familien untergebracht sind. Zitiert wir nun
der Leiter der Wittstocker Polizeiwache Benedickt, der hier “fünf bis zehn
Aussiedler” ausgemacht haben will, die “schon länger in Wittstock sind”, sich aber
nur “in ihrem Kulturkreis aufhalten”. Die polizeiliche Perspektive auf das Problem
in dieser Siedlung ist sicherlich interessant, jedoch bei weitem nicht hinreichend,
um für eine fundierte Recherche herzuhalten. Doch danach steht Frau Kolb
offensichtlich auch nicht der Sinn. Vielmehr braucht es nun noch einen weiteren
Beleg für die in der Überschrift angekündigte “Selbstjustiz”. So berichtet sie, dass
fünf Aussiedler aus dem Kreise eben jener nicht Integrierten nach dem Trauermarsch
zu einem Treffpunkt der Rechten gefahren seien, um zwei junge Männer
zusammenzuschlagen. Dann erfährt man noch, dass der schon ins Visier geratene Bruder
des toten Kajrat dabei gewesen sein soll. Tatsächlich hat es in der Nacht nach dem
Trauermarsch einen Auseinandersetzung zwischen fünf Aussiedlern und zwei Deutschen
gegeben. Und tatsächlich sind fünf mutmaßlich an der Auseinandersetzung beteiligte
Russlanddeutsche vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen worden. Allerdings sieht
die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm, die einen der Beschuldigten vertritt
und mit den Akten des Falles vertraut ist, “keinerlei Hinweise auf einen
Rachefeldzug. Vielmehr waren es erneut Provokation der beiden Deutschen, welche die
Schlägerei ausgelöst haben.” Dass der Bruder von Kajrat B. an diesem Abend zu Hause
war und sich um seine Familie gekümmert hat, weiss auch die Polizei. Nur Hanna Kolb
scheint das bei “ihren Recherchen in Wittstock” nicht mitbekommen zu haben. Oder hat
dies nicht in ihr Konzept gepasst?
Dominique John und Claudia Luzar
(Opferperspektive Brandenburg)