Kajrat Batisov wurde am 4. Mai 2002 möglicherweise nur deshalb mit einem 17 Kilogramm schweren Stein erschlagen, weil der Russlanddeutsche zuvor in einer Diskothek im Wittstocker Stadtteil Alt Daber von einem jungen Deutschen eine Zigarette verlangt hatte, woraufhin das Gespräch eskalierte und die Situation außer Kontrolle geriet. Viele junge Leute müssen den Schlägen und Tritten wie in einem Fernsehdrama zugesehen haben. Nur ein Mädchen wollte mit ihrem Flehen das Schauspiel stören. “Hört auf, hört auf! Ihr schlagt den ja tot!” schrie sie in die Runde. Den 24-Jährigen, der erst neun Monate zuvor aus Kasachstan übergesiedelt war, rettete der Hilferuf nicht mehr.
Den Findling auf die Brust geschmettert
Irgend jemand schlug ihn zu Boden, jemand presste seinen Körper nieder, irgend jemand, auch er ist nicht genau bekannt, schmetterte den Findling auf Batisovs Brust. Bis der junge Mann drei Wochen später, am Vormittag des 23. Mai auf der Intensivstation starb, war er nicht mehr aus dem Koma erwacht, um die Täter zu benennen.
Wer sich im Morgengrauen jenes Samstags schuldig machte, ist unklar. “Der Steinewerfer ist unter den Angeklagten”, heißt es unter Beteiligten des Prozesses, der am Mittwoch vor dem Landgericht Neuruppin beginnt. Deutlicher will niemand werden.
In einem der aufsehenerregendsten Tötungsverbrechen der vergangenen Jahre in Brandenburg wirft die Staatsanwaltschaft Neuruppin vier jungen Männer vor, Kajrat Batisov gemeinschaftlich getötet zu haben. Mike Sch., Marco F., Patrik Sch. und Ralf A. — einer der 20- bis 22-Jährigen müsste demnach der Steinewerfer sein. Ein fünfter junger Mann, der 23-jährige Michael H., ist wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt.
44 Zeugen sollen an den vorgesehenen zehn Prozesstagen gehört werden, darunter etwa 35 Diskobesucher, die etwas oder alles gesehen haben müssten. Zur Aufklärung des Verbrechens haben sie bisher dennoch wenig beigetragen. “Wir haben den Eindruck, dass viele mauern”, sagt Neuruppins Leitender Oberstaatsanwalt, Gerd Schnittcher, “es gibt nur wenige unter den Beteiligten, die an einer Aufklärung interessiert sind.” Niemand will etwas gesehen haben. “Das kann nicht sein”, so Schnittcher. Bis zum Äußersten will die Anklagebehörde gehen, um die Wahrheit doch noch zu ergründen. Zeugen, die vor Gericht lügen, wolle er “sofort vorläufig festnehmen” lassen, sagt der Chefankläger.
Das kollektive Schweigen erklärt Schnittcher als eine “Mischung aus dem Wunsch, den Angeklagten Beistand zu leisten, und der Angst vor ihnen”. Polizeibekannte Schläger seinen immerhin darunter. Andere künftige Prozessteilnehmer reden von einem “Ehrenkodex”, der Täter und Zeugen zu verschwiegenen Komplizen mache. Dass sich die mutmaßlichen Täter im Umfeld der rechtsextremen Szene Wittstocks bewegten, ist unstrittig. Doch wegen derartiger Delikte sind sie mit dem Gesetz bisher nicht in Konflikt geraten.
Unbekanntes Tatmotiv
Ob Fremdenhass bei Kajrat Batisovs Tod eine Rolle spielte oder er aus einem anderen Grund erschlagen wurde, ist schwer nachzuweisen. Es gebe keine Aussage, so Schnittcher, die ein ausländerfeindliches Motiv eindeutig belege — nicht einmal die Angaben von Batisovs Freund, Maxim K., der an jenem 4. Mai ebenfalls zusammengeschlagen worden war. “Wir konnten das Motiv für die Tat nicht ermitteln”, räumt Schnittcher ein.
Obwohl die Staatsanwaltschaft die vier jungen Männer wegen Totschlags angeklagt hat, geht sie weiter von einem fremdenfeindlichen Hintergrund des Verbrechens aus. “Wir haben die Vermutung immer noch”, sagt Schnittcher, doch habe dieser Verdacht “nicht sauber herausgearbeitet werden können”. Sollte sich in der Gerichtsverhandlung Fremdenhass als Tatmotiv erweisen, wird aus der Anklage auf Mord erweitert. Als niederer Beweggrund ist Ausländerhass ein Merkmal, das Totschlag zum Mord macht. Die Familie des Erschlagenen hat, davon unabhängig, längst ihre Konsequenzen gezogen. “Die Familie Batisov ist im August nach Baden-Württemberg gezogen”, sagt Dominique John vom Hilfeverein “Opferperspektive”. Sofort nach dem Verbrechen hätten die Spätaussiedler den Antrag auf Umverteilung gestellt. “Sie sind auch dort zunächst in einem Heim untergekommen, aber das war ihnen egal.” Maxim K., das überlebende Opfer, wohnt inzwischen in Neuruppin. “Dem war es wichtig wegzukommen”, weiß John.
Konsequenzen aus dem Verbrechen hat auch der Landkreis Ostprignitz-Ruppin gezogen. “Die Auflösung des Übergangswohnheims für Spätaussiedler in Wittstock ist für Mitte dieses Jahres geplant”, teilt Landrat Christian Gilde (SPD) mit. Es sei “besser, die Aussiedler sofort in Wohnungen unterzubringen” anstatt wie bisher in zentralen Heimen. Diese verbessere die Integrationschancen und verringere Spannungen mit der ansässigen deutschen Bevölkerung.
Kommentar: Simple Frage
Ob Kajrat Batisov aus Fremdenhass oder einem anderen Grund erschlagen wurde, ist selbstverständlich eine entscheidende Frage. Je nach der Antwort war das Verbrechen an dem jungen Russlanddeutschen Mord oder Totschlag. Zehn zusätzliche Haftjahre kann der juristische Unterschied für die Angeklagten bedeuten. In dem Prozess vor dem Neuruppiner Landgericht gegen die vier jungen Männer, die den 24-Jährigen im Mai 2002 umgebracht haben sollen, geht es jedoch nicht allein um Abschreckung und Gerechtigkeit. Schon vor Beginn der Gerichtsverhandlung stellt sich ein kollektives Versagen der Erziehung heraus, grundgelegt im Elternhaus, in der Schule nicht mehr revidiert. Es kann unmöglich sein, dass zahlreiche junge Leute nicht gesehen haben, wie Kajrat Batisov getötet wurde, obwohl sie am Tatort standen. Ihr Schweigen, heißt es, sei wohl der Ausdruck eines Ehrenkodexes. In Wahrheit ist das Schweigen der Beweis reinster Menschenverachtung. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass am Anfang des Prozesses nicht die Frage nach einem ausländerfeindlichen Tatmotiv steht. Zunächst stellt sich nur die simple Frage, wie es sein kann, dass 35 junge Menschen tatenlos zuschauen, wenn ein Mensch umgebracht wird.