(Jörg Kronauer) Es ist recht still geworden um Ermyas M. Kontinuierlich hatte in der zweiten Aprilhälfte auch die überregionale Tagespresse über den Überfall auf ihn und über die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden berichtet. Dass man kurz vor der Fußballweltmeisterschaft vor den Toren der Hauptstadt, in Potsdam, beinahe einen von Rassisten erschlagenen Schwarzen hätte beklagen müssen – das hatte der deutschen Öffentlichkeit einen gewissen Schrecken eingejagt. Doch der schwarz-rot-goldene Taumel hat alles in Vergessenheit geraten lassen, was einen Schatten auf die Nation werfen könnte. Im Juni las man lediglich noch zweimal in den Randspalten der Zeitungen Kurznotizen über die Genesung von Ermyas M.
Ein Vierteljahr ist es her, dass er in Potsdam von zwei Deutschen fast totgeschlagen wurde. Zwei Wochen lang lag er im Koma, die Ärzte kämpften um sein Überleben. Inzwischen hat sich der Gesundheitszustand des 37jährigen so weit gebessert, dass er das Krankenhaus verlassen konnte. Eines jedoch will sich bei ihm bis heute nicht einstellen: die Erinnerung daran, was ihm in der Nacht vom 15. auf den 16. April an der Straßenbahnhaltestelle Charlottenhof widerfuhr. Dabei wäre genau dies ungeheuer hilfreich für die Aufklärung des Vorfalls.
Mit den Ermittlungen ist inzwischen die Potsdamer Staatsanwaltschaft befasst. Zunächst hatte der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm den Fall an sich gezogen. Die Tat sei »geeignet, die innere Sicherheit zu beeinträchtigen«, hieß es damals aus seiner Behörde. Schließlich würden Angriffe auf Migrantinnen und Migranten ein Klima der Angst schaffen und könnten möglicherweise auch Auslöser für weitere Taten dieser Art sein. So mancher wunderte sich damals über die ungewohnte Erkenntnis des Generalbundesanwalts. Fünfeinhalb Wochen später und nach heftigen Angriffen aus den Unionsparteien übergab Nehm den Fall an die örtlichen Behörden.
Denn »die nachweislich fremdenfeindlichen Äußerungen der Täter gegenüber ihrem späteren Opfer«, unleugbar festgehalten auf der Voicebox eines Handys, stünden »weder räumlich noch zeitlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Niederschlagen des Opfers«, teilte die Generalbundesanwaltschaft am 26. Mai mit. Womöglich sei der beinahe tödliche Fausthieb erst eine Minute nach den rassistischen Beschimpfungen erfolgt, erläuterte Staatsanwalt Gernot Remen aus Potsdam der Jungle World. Dann aber könne den Verdächtigen »nicht mit der zur Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit« nachgewiesen werden, »mit bedingtem Tötungsvorsatz ihr Opfer niedergeschlagen zu haben«, heißt es in Karlsruhe. In eine ähnliche Richtung gehen Zeugenaussagen, denen zufolge Ermyas M. betrunken und bereits vorher in einer Diskothek in einen Streit verwickelt gewesen sein soll.
Die Justizposse um die Inhaftierung der beiden Verdächtigen dauert immer noch an. Am 20. April waren Björn L. und Thomas M. festgenommen worden, am 23. Mai kamen beide wieder frei. Thomas M. profitiere von einer Ermittlungspanne der Polizei, berichtete die Berliner Zeitung. Demnach sollen bei der Spurensuche am Tatort unterschiedliche Scherben in einem Behälter zusammengeworfen worden sein. Hatte die Generalbundesanwaltschaft zunächst berichtet, auf Glassplittern Blutspuren von Thomas M. gefunden zu haben, so teilte dessen Anwalt wenig später zufrieden mit, es handele sich nur um eine »juristisch nicht verwertbare Blutmischspur« aus dem Scherbensammelsurium.
Weniger Glück hatte Björn L. Von ihm sind keinerlei Blutspuren vorhanden, aber er soll vor einem Mitgefangenen bedauert haben, am 16. April nicht »richtig zugeschlagen« zu haben. Bereits einen Tag nach seiner Freilassung kam er wieder in Haft. Im Juni wiederholte sich das Spiel: Anfang des Monats hob das Potsdamer Amtsgericht den Haftbefehl gegen den Bodybuilder aus dem örtlichen Türstehermilieu auf, Mitte des Monats setzte das Landgericht ihn nach einem Einspruch der Staatsanwaltschaft wieder in Kraft. In Kürze muss sich das Landgericht mit einer erneuten von L. eingeleiteten Haftbeschwerde befassen. Über den aktuellen Stand der Ermittlungen war bei der Potsdamer Staatsanwaltschaft nichts zu erfahren.
In der brandenburgischen Hauptstadt ist der Fall durchaus noch ein Thema. Dort reiht er sich ein in eine Serie weiterer Übergriffe auf Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe oder auch wegen ihres Kleidungsstils nicht den Normen entsprechen. Allein im Jahr 2005 sind 27 solcher Fälle bekannt geworden, berichtet der Verein »Jugend engagiert in Potsdam«, der die Entwicklung aufmerksam beobachtet. Alle zwei Wochen ein Opfer rechter Gewalt? Das ist längst noch nicht alles, meinen einige. Weil die Übergriffe als fast schon alltäglich wahrgenommen werden, zeigen viele Betroffene sie gar nicht mehr an.
Allerdings ist die Lage gegenwärtig etwas entspannter als im vergangenen Jahr, meinen Potsdamer Antifas. Vor allem Übergriffe organisierter Rechter kämen derzeit seltener vor, heißt es. Die örtlichen Neonazis stehen unter spürbarem Repressionsdruck, sind im Knast oder müssen sich wegen Bewährungsstrafen zügeln. Das verschafft für einen gewissen Zeitraum etwas Erleichterung. Langfristig geben sich die Antifas eher skeptisch. Die Anbindung an Berliner Neonazi-Kameradschaften bestehe nach wie vor, berichten sie der Jungle World, inzwischen komme es sogar wieder zu Propagandaaktivitäten.
Unabhängig davon gibt es unorganisierte Rassisten. Ihnen ist offenkundig der Mann zuzurechnen, der am späten Abend des 5. Mai in Potsdam einen Studenten aus Tansania beschimpfte und beleidigte. Die Polizei ermittelt wegen des Verdachts auf Volksverhetzung – bis heute ohne Erfolg. Ohne das Eingreifen eines Passanten hätte die Situation übel enden können: Mit einem schwarzen Opfer, einem Täter, der seinen Rassismus abseits der organisierten Rechten auslebt, und Sicherheitsorganen, die an der Aufklärung der Tat scheitern.