Im Sommer 2002 setzen Rechtsextreme einen türkischen Imbiss in Lehnitz in Brand. Ein Jahr später hetzen Jugendliche einen Tunesier durch Oranienburg. Was prägt die Jugendkultur in der Stadt? Zwei Jahre lang untersuchte eine Studiengruppe die rechtsextreme Szene. Das Ergebnis — die Studie “Futur
exakt — Jugendkultur in Oranienburg zwischen rechtsextremer Gewalt und demokratischem Engagement — liegt jetzt vor. Mit den Autoren Ralph Gabriel und Ingo Grastorf sprach MAZ-Redakteurin Frauke Herweg.
“Früher war alles schlimmer” — das ist eine weit verbreitete Meinung zum
Rechtsextremismus in Oranienburg. Trifft sie zu?
Grastorf: Betrachtet man die Tatsachen — ja. Nach den Überfällen auf die
Asylbewerberheime zu Beginn der 90er sind spektakuläre Übergriffe weniger
geworden.
Gabriel: Bis 1995/96 gab es eine massiv organisierte rechtsextreme Szene in
Oranienburg. Das ist heute nicht mehr so. Feste Strukturen konnten wir nicht
beobachten. Gleichwohl haben die Strukturen zu Anfang der 90er die
Jugendkultur geprägt. Das darf man nicht vergessen. Wer sagt, dass vor
einigen Jahren noch alles schlimmer gewesen war, läuft Gefahr, die
Sensibilität dafür zu verlieren, was heute tatsächlich noch da ist.
Wie ist die Szene heute organisiert?
Grastorf: Sie ist sehr viel privater geworden und damit auch aus der
öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Die Bereitschaft zu handeln ist nach
wie vor da. Allerdings ist unser Eindruck, dass die Szene spektakuläre
Aktionen auch gar nicht mehr nötig hat. Sie hat ohnehin Einzug in das
Alltagsleben gefunden.
Mit Mario Popiella ist 2003 erstmals ein NPD-Kandidat in den Kreistag
gezogen. Wie wichtig sind rechte Parteien oder rechtsextreme Organisationen
für Oberhavel?
Gabriel: Die NPD hat mit 3 bis 5 Prozent der Stimmen ihren festen
Wählerstamm. Zwar kommen einige NPD-Persönlichkeiten aus Oberhavel — der
Pressesprecher des NPD-Landesverbandes Thomas Salomon etwa oder der
Rechtsanwalt Richard Miosga. Auf die Jugendkultur hat die NPD nur wenig
Einfluss.
Grastorf: Der Märkische Heimatschutz ist da für Jugendliche viel
interessanter. Er versucht, die Jugendlichen vor Ort anzusprechen.
Allerdings lässt sich noch nicht klar sagen, wie groß sein Einfluss in
Oranienburg wirklich ist. In Eberswalde hat er schon sehr gut Fuß gefasst.
In Oranienburg ist er gerade dabei.
Wie groß ist die Szene?
Gabriel: Der Verfassungsschutz spricht von sechs Leuten, die in Oranienburg
zum harten Kern der Rechtsextremen gehören. Im ganzen Landkreis sollen es 21
sein. Etwa 40 Rechtsextreme halten der Verfassungsschutz und die Polizei für
gewaltbereit. Bei allen Zahlen allerdings sind die Unter-18-Jährigen nicht
mitgezählt.
Grastorf: Im Einzelfall ist es immer sehr schwierig zwischen Täter und
Zuschauer zu unterscheiden. Die Hetzjagd auf den Tunesier im August 2003
zeigt, dass die Jugendlichen ihre Rollen durchaus gewechselt haben.
In Ihrem Buch sprechen Sie von “Zonen der Angst”. Wo gibt es die in
Oranienburg und was ist damit gemeint?
Gabriel: Was eine Zone der Angst ist, kann nur ermessen, wer Angst hat. Ich
hätte keine Angst, am Oranienburger Bahnhof, am Weißen Strand in Lehnitz
oder an der Aral-Tankstelle an der Berliner Straße vorbeizugehen. Ein
Migrant oder ein Andersaussehender womöglich schon. Von den Zonen der Angst
sind in der Vergangenheit häufig Überfälle ausgegangen. Wer sich als
potenzielles Opfer fühlt, weiß das und meidet diese Orte womöglich.
Grastorf: Zonen der Angst sind immer temporär. Es ist ungewiss, ob dort
etwas passiert. Es kann etwas passieren. Das ist der Moment der Willkür.
Wenn ich als Mensch dunkler Hautfarbe mittags am Oranieburger Bahnhof
langgehe, muss ich mich dort wahrscheinlich nicht bedroht fühlen. Am Abend
kann das allerdings schon wieder ganz anders aussehen.
Eine der zentralen Thesen in Ihrem Buch ist, rechtsextreme Repräsentanten
könnten sich in Oranienburg sicher sein, von einer schweigenden Mehrheit
toleriert zu werden. Ist Oranienburg eine rechte Stadt?
Gabriel: Das kan man nicht so ohne weiteres beantworten. Was man aber sagen
kann, ist: Viele haben in Oranienburg für die potenziellen Opfer nichts
übrig. Bei uns entsteht der Eindruck, sie möchten in einer Gemeinschaft von
Gleichen unter sich bleiben. Das Problem Rechtsextremismus als solches wird
nicht erkannt, man möchte sich auch keine Probleme schaffen. Ein konkretes
Beispiel: Auf Stadtfesten haben wir beobachtet, wie Jugendliche, die durch
ihre Kleidung und ihr Auftreten eindeutig als rechtsextrem zu erkennen
waren, toleriert wurden. Ihnen wurde auf die Schulter geklopft, man lud sie
zum Bier ein. Niemand regte sich auf. Es gibt so etwas wie einen
fremdenfeindlichen Konsens in Richtung “Die sagen, was wir denken.”
Wie bewerten Sie das demokratische Engagement der vergangenen Jahre? Wie beurteilen Sie das Engagement des Landkreises?
Gabriel: Es ist gut, dass es diese interkulturellen Begegnungen zwischen
Jugendlichen verschiedener Herkunft gibt. Für die politische Bildung bringt
gemeinsames Grillen jedoch nur wenig. Solche Begegnungen sind zu wenig
nachhaltig. Die Jugendlichen verbleiben zumeist in den alten Strukturen.