Zwei “Stolpersteine” in der Steinstraße
Am Montag, dem 19. März, verlegt der Künstler Gunter Demnig ab 8.30 Uhr vor zwei Häusern in der Steinstraße von Rathenow “Stolpersteine”. Mit diesem Kunstprojekt erinnert er an jüdische Mitbürger, die auf diese Art als Opfer der NS-Zeit aus ihrer Anonymität geholt werden sollen: Franziska und Alfred Kornblum, Berta Kadden und Emmy Sinasohn. Der folgende Beitrag, den Dieter Seeger geschrieben hat, berichtet über Schicksale von diesen und anderen jüdischen Bürgern, die in Rathenow lebten.
RATHENOW Die Steinstraße war vor 70 Jahren eine bedeutende Straßenzeile mit vielen Geschäften. In der Stadt Rathenow lebten zu Beginn der faschistischen Diktatur 111 jüdische Mitbürger. Einige von ihnen hatten durch Kleinhandel ihr Auskommen, wenige waren zu Wohlstand gekommen.
Es gab jüdische Intellektuelle – Ärzte und einen Rechtsanwalt – und eine Menge einfacher Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den Rathenower Groß- und Kleinbetrieben ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie alle waren in die Bevölkerung integriert, aber es gab in der langen Geschichte immer wieder antisemitische Ausfälle, Angriffe, Diskriminierungen.
Als die faschistische NSDAP ihren “Kampf um die Straße, die Köpfe und die Parlamente” begann, waren spießige Kleinstädte mit ihrem Potenzial Deutsch-Nationaler, dem Kaiserreich Nachtrauernder eine wichtige Operationsbasis. Rathenow hatte jedoch auch eine selbstbewusste, kämpferische Arbeiterklasse. Die SPD war stark in den kommunalen Körperschaften vertreten, die KPD und der Leninbund (Linke Kommunisten) drängten die Sozialdemokraten auf die Kernpunkte der Klassenauseinandersetzungen, hatten aber gegen Ende der Weimarer Republik eher mit deren Antikommunismus zu kämpfen. Die Nazis konnten bei der zersplitterten Linken mit nationalistischen und rassistischen Parolen punkten. Die Juden stellten sie als “Feinde der Deutschen” dar. Das Naziblatt “Westhavelländische Tageszeitung” gab den antisemitischen Ton vor, und es kam am 1. April 1933 zum ersten Judenboykott als einer Art Probe. SA-Leute postierten sich vor den jüdischen Geschäften, um die Käufer am Betreten der Läden zu hindern. Plakate und Schilder hetzten. Die “jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung” sollte auch in Rathenow besiegt werden.
In der Steinstraße 7 betrieb Alfred Kornblum ein Geschäft für Herrenartikel. Er hatte den Laden und die dazugehörige Wohnung vom Apotheker Schultze gemietet. Als die Nazis sein Geschäft blockierten, waren “Differenzen” mit dem Hausherrn die Folge. Kornblum verlor seine Existenz, die Familie musste aus der Wohnung ausziehen. M. Conitzer & Söhne GmbH, das jüdische Kaufhaus in der Berliner Straße, bot Wohnung und Beschäftigung. Alfred Kornblum wurde Handelsreisender mit Wandergewerbeschein, das heißt er fuhr als “Klinkenputzer” über Land und bot Conitzer-Ware an.
Alfred Kornblum war Vorstand der jüdischen Gemeinde. Kantor und Religionslehrer war Max Abraham. Abraham war bevorzugtes Ziel antisemitischer Überfälle. Die Rathenower SA fiel mehrfach über ihn her und schlug ihn zusammen. Nach der “Machtergreifung” der Hitlerfaschisten suchte sich Abraham der Angriffe zu entziehen, indem er in Berlin Quartier nahm und nur zur Amtsausübung nach Rathenow pendelte. Er wurde am 26. Juni 1933 abends auf dem Weg vom Bahnhof zu seiner Wohnung in der Großen Milower Straße vom Adjutanten des SA-Sturmbanns, Heinrich Meiercord d. Jüng., auf dem Askanierdamm (Am Körgraben) angegriffen und misshandelt. In der Folge kam er ins Polizeigefängnis Berliner Str. 1–2 und am Morgen des nächsten Tages zu den Verhafteten (zweite Verhaftungswelle gegen Sozialdemokraten und bürgerliche Nazigegner) in die Turnhalle des Lyzeums, Schleusenstr. 11. Während der dortigen Quälereien schlug ihn Meiercord mehrfach bewusstlos. Unter den Gefangenen waren die jüdischen Geschäftsleute Arno Ganß, Alex Grischmann und Fritz Sinasohn. Am Abend brachten die SA und SS alle Verhafteten ins KZ Oranienburg. Bezeichnend ist, wie mit Rathenower Juden weiter umgegangen wurde.
Arno Ganß war Eigentümer des Hauses Steinstr. 9 und führte dort eine Niederlassung des “Bielefelder Kaufhauses” (heute Neubauten neben der Altstädtischen Apotheke). 1939 – also nach der Verkündung der “Rassegesetze” und dem Pogrom am 9. November 1938 – wohnte er dort nur noch als Mieter. Jetzt gehörte Friedrich Lindner das Haus, in dem er mit Webwaren und Möbeln handelte. Die Erklärung heißt “Arisierung”: Die Geschäftsleute wurden terrorisiert und verkauften schließlich “an den Staat” – also Enteignung.
Auf gleiche Weise wurde Alex Grischmann sein Schuhgeschäft in bester City-Lage, nämlich Jägerstr. 1 (Goethestraße) los. Der “Arier” Michaelis führte den Laden weiter, Grischmann wurde zum Wohnungsmieter.
Fritz Sinasohn war Kaufmann und wohnte im A.-Hitler-Ring II/8 (Ebertring). Er war mit seinen Geschwistern Eigentümer von Grundstücken und des Produktenhandels Siegbert Sinasohn in der Großen Burgstr. 21. Wie Ganß und Grischmann hatten die Nazis ihn ins KZ Oranienburg geschleppt. Dort setzten sie Sinasohn unter Druck, bis er einen Kaufvertrag zum Einheitswert (!) unterschrieb, ehe man ihn dann entließ.
1939 hatte er eine andere Adresse: Steinstr. 38. Zufall? Dieses Haus war Eigentum von Bertha Kadden (das spätere Kinderkaufhaus an der Schleusenbrücke). Ein riesiges Haus mit Läden und vielen Wohnungen zur Steinstraße und zum Schleusenkanal. Alfred Kadden betrieb die Firma Raro-Optik/Großhandel und Josef Kadden “Das Schuhhaus”. Karl Päger, der im gleichen Haus ein Geschäft für Damengarderobe führte, ist aber bereits 1937 Inhaber der gesamten unteren Ladenetage. Noch gehörte der Jüdin Bertha Kadden das Haus. Sind alle Geschäftsleute Kadden vielleicht ausgestorben?
Das größte Kaufhaus der Stadt, erstes Haus am Platze, gehörte der Firma M. Conitzer & Söhne GmbH. 1938 wurde es “arisiert”. Herr Bünger übernahm das lukrative Warenhaus.
Bereits am 1. April 1933 begannen die Rathenower Rechtsanwälte, ihren missliebigen Kollegen Dr. Hammerschlag zu diskreditieren und zu boykottieren. Die Anwälte Haak, Dr. Linsdorf, Dr. Babenzien, Köhler, Hohenstein und Dr. Schoenemeyer veröffentlichten in der “Westhavelländischen Tageszeitung” vom 1. April einen Aufruf gegen Juden in ihrem Berufsstand, “…insbesondere dem im Amtsgericht Rathenow ansässigen Rechtsanwalt jüdischer Rasse … dem Rechtsanwalt und Notar Dr. Hammerschlag, Dunckerstr. 11”. Am 9. Mai 1933 meldete der “Anzeiger für Nowawes” (Babelsberg) den Ausschluss von fünf Rechtsanwälten “zur Reinigung des Rechtsanwaltsstandes im hiesigen Gerichtsbezirk”, darunter Dr. Hammerschlag: Berufsverbot.
Mit dem Pogrom am 9. November 1938 leiteten die Nazis ihre lang angelegte “Endlösung der Judenfrage” ein. Auch in Rathenow tobten SA und SS in der Synagoge (Fabrikenstraße), zerschlugen alles und errichteten auf dem Hof einen Scheiterhaufen aus Thorarollen, Kultgegenständen, Gebetsbüchern und ‑mänteln. Das Klavier wurde zerhackt, Geschirr zerschlagen und der Leichenwagen angezündet. Alfred Kornblum war Augenzeuge, wurde abgedrängt und wollte nach Hause gehen (Berliner Str. 21–22, Ecke Fehrbelliner Straße), als ihn bei der Post ein Polizist entdeckte, der ihn von der Ausstellung des Wandergewerbescheins auf der Polizeiwache kannte. Er kam extra von der anderen Straßenseite herüber, rempelte Alfred Kornblum an und beschuldigte ihn des Angriffs auf einen Polizisten. Er verhaftete ihn, schlug ihn in der Zelle zusammen und dabei mehrere Zähne aus. Im Laufe des Tages wurden alle männlichen Juden verhaft
et und eine Woche später nach Potsdam zur Gestapo gebracht.
Am selben 9. November um 9 Uhr wurden Friedrich Löwental und weitere fünf Mitarbeiter des Landwerkes Steckelsdorf/Ausbau aus dem Haus geholt. Hier sollten Jugendliche auf ihre Auswanderung nach Israel durch das Erlernen landwirtschaftlicher Fertigkeiten vorbereitet werden. Die SA trieb die Ausbilder mit Fußtritten ins Bürgermeisteramt Neue Schleuse. Bürgermeister Böhm und Oberwachtmeister Bachmann bewachten die Festgenommenen bis zu ihrem Abtransport in die Kreisstadt Genthin. Von dort wurden sie am nächsten Tag unter Beschimpfungen und Misshandlungen zum KZ Buchenwald gebracht. Dort erlagen zahlreiche Häftlinge – auch aus Steckelsdorf – den Quälereien.
Dr. Salomon Marcus hatte in seinem Haus in Neue Schleuse, Göttliner Str. 55, seine Praxis. Er wurde “Arzt für Arme” genannt, weil er viele Patienten kostenlos behandelte. In Rathenow führte er die Wöchnerinnenbetreuung ein und unterstützte die Suppenküche des Roten Kreuzes. In der Pogromnacht des 9. November wurden die Fenster seines Hauses eingeworfen. 1939 erhielt er Berufsverbot, verlor sein Haus und musste auf Befehl der Gestapo ins Landwerk Steckelsdorf umziehen. Dort entzog er sich 1942 der angekündigten Deportation durch den Freitod.
Die in Rathenow verbliebenen Juden wurden sämtlich in eine Wohnung in der Steinstr. 38 gepfercht. Von dort wurden die Menschen – es waren noch ein paar Dutzend – nach Theresienstadt (Terezin) deportiert. Dort verliert sich ihre Spur in den Transporten zu den Vernichtungslagern. Außer Bertold Metis kam nach dem Krieg keiner zurück.