Angekündigt und absehbar
Die Angriffe vom 2. und 3. Oktober 1990 hatten sich im Vorfeld angebahnt und waren entsprechend absehbar. In den Monaten zuvor hatten Neonazis am Rande gesellschaftlicher Großereignisse wie dem Himmelfahrtstag oder der Fußball-WM immer wieder Linke und Migrant:innen attackiert. Zudem hatten sie für den 2. und 3. Oktober 1990 solche Angriffe konkret angekündigt. Sowohl der Staat als auch die Bevölkerung als auch die Presse wussten also davon und konnten sich darauf einstellen.
In einem Aufruf vom September 1990 zu einer antinationalistischen Demonstration am 3. Oktober werden die Absichten der Neonazis von den Organisator:innen der Demonstration klar benannt: „Das ist umso wichtiger, da auch mehrere Faschisten-Gruppen an diesem Tag Aufmärsche planen. Außerdem wollen sie diejenigen überfallen, die in ihren Augen ‚undeutsch‘ sind. Aus diesen Gründen ist am 3. Oktober eine Demo zum Alexanderplatz geplant, der ein Zentrum dieser Jubelfeiern sein wird. Dort werden wir uns auch dem Aufmarsch der Neonazis entgegenstellen.“2
Die so im Vorfeld angekündigte Zurückhaltung (im doppelten Wortsinn) der Polizei und des Staates hatte eine zweifache Signalwirkung: Zum einen wurde den Neonazis zu verstehen gegeben, dass sie freies Feld haben. Zum anderen wurde den potenziellen Opfern der Angriffe klar gemacht, dass sie sich selbst schützen müssen.
Dementsprechend bereiteten sich in besetzten Häusern in ganz Ostdeutschland die Besetzer:innen auf die Angriffe vor: Sie verrammelten und verbarrikadierten ihre Häuser, vernetzten, koordinierten und bewaffneten sich. In der Ostsee-Zeitung hieß es: „In mehreren besetzten Häusern in Ost-Berlin wurden in Erwartung von Auseinandersetzungen Türen und Fenster vernagelt.“10 Für Potsdam lässt sich nachlesen: „In der Nacht zum ‚Tag der Deutschen Einheit‘ 1990 erwarteten Hausbesetzer_innen einen Überfall auf das alternative Potsdamer Kulturzentrum ‚Fabrik‘. Ein damals Anwesender beschreibt die Situation: ‚Vor dem Tor Wachposten. […] Auf dem Hof Punks, bewaffnet mit Knüppeln, mit denen sie kampfeslustig oder nervös klappern. In der Fabrik gedämpfte Stimmung. Leise Musik, Gruppen, die beieinander stehen oder sitzen.‘“11
Eine Welle von Angriffen und Gewalt
Konservativ geschätzt beteiligten sich mindestens 1000 Neonazis und Rechte direkt an den Angriffen. In mindestens dreizehn ostdeutschen Städten kam es zu größeren Attacken:
- In Zerbst griffen mindestens 200 Neonazis über mehrere Stunden und von der Polizei ungestört das besetzte Haus an. Schließlich setzten sie das Haus in Brand. Die Besetzer:innen wurden von der Feuerwehr in letzter Minute gerettet. Beim Sprung vom Dach zogen sie sich teils schwere Verletzungen zu.
- In Erfurt griffen 50 Neonazis das Autonome Jugendzentrum an. Dabei geriet das Nachbarhaus in Brand. Die Polizei schritt erst spät ein.
- In Weimar griffen über 150 Neonazis das besetzte Haus in der Gerberstraße 3 u.a. mit Molotow-Cocktails an. Die Belagerung dauerte mehrere Stunden. Dann schritt die Polizei ein.
- In Jena stürmten und verwüsteten Neonazis das besetzte Haus in der Karl-Liebknecht-Straße 58. Dabei waren sie von der Polizei ungestört.
- In Leipzig randalierten 150 Neonazis in der Innenstadt, griffen Passant:innen an und entglasten anschließend das soziokulturelle Zentrum „Die Villa“. Die Polizei schritt jeweils am Ende ein.
- In Halle (Saale) überfielen 15 Neonazis und Hooligans drei Mal in Folge das alternative Café „NÖ“ im Reformhaus, dem Haus der Bürgerbewegungen, und verwüsteten es. Die Polizei griff danach ein.
- In Hoyerswerda griffen bis zu 50 Neonazis ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter:innen an. Die Polizei war vor Ort, schritt aber nur halbherzig ein.
- In Guben griffen 80 Neonazis ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter:innen an und setzten einen polnischen Kleinbus in Brand. Die Polizei schritt spät ein.
- In Magdeburg randalierten 70 Neonazis in der Innenstadt und griffen einen Jugendclub an. Die Polzei griff zu spät ein. In Magdeburg-Olvenstedt griffen die Neonazis das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen an. Hier war die Polizei vor Ort und hatte auch ein Schutzkonzept.
- In Frankfurt/Oder griff eine kleine Gruppe von Neonazis zwei Busse mit polnischen Arbeiter:innen an. Die Busse wurden beschädigt, ein Fahrer wurde verletzt.
- In Bergen auf Rügen belagerten teils vermummte Neonazis ein Migrant:innenwohnheim. Der Mob wurde später von der Polizei aufgelöst.
- In Selmsdorf an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zerstörten 50 Neonazis die Gebäude der Grenzkontrollstation. Die Polizei schritt spät ein.
- In Schwerin kam es zu einer Straßenschlacht zwischen insgesamt 200 Linken und Neonazis sowie der Polizei.
Diese größeren Angriffe waren nur die Höhepunkte einer Welle neonazistischer Aktionen und Gewalt, von der das gesamte Land erfasst wurde: In Riesa verprügelten Neonazis die Gäste einer Feier13, in Dresden zogen Neonazis durch den alternativen Stadtteil Neustadt14, in Recklinghausen skandierten 70 Neonazis rassistische Slogans15, in Bielefeld pöbelten Neonazis „Ausländer“ an16, in Hamburg versuchten Neonazis die besetzten Häuser der Hafenstraße anzugreifen17 – um nur einige zu nennen. Insgesamt konnten bisher 39 Vorfälle in Deutschland und in der Schweiz ermittelt werden.
Bei nahezu allen Vorfällen waren die Neonazis schwer bewaffnet – mit Flaschen, Pflastersteinen, schweren Schrauben, Holzknüppeln, Baseballschlägern, Messern, Schreckschusspistolen, Pistolen mit Reizgas, Feuerwerkskörpern, Kanistern, Fackeln oder Molotow-Cocktails.
Zudem beteiligten sich an den Angriffen oft Neonazis aus verschiedenen Städten, auch zugereiste aus dem Westen. An den Randalen in der Leipziger Innenstadt und am Angriff auf „Die Villa“ nahmen etwa Mitglieder der neonazistischen „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) aus Franken teil.19 Unter den Neonazis, die das besetzte Haus in Weimar angriffen, befanden sich laut der Thüringer Landeszeitung ebenfalls „viele Zugereiste“.20 Dasselbe gilt für den Angriff auf die Kötschauer Mühle in Zerbst.
Diese beiden Sachverhalte – die massive Bewaffnung und die oft städteübergreifende Koordination der Angriffe – lassen darauf schließen, dass die Neonazis viele der Angriffe im Vorfeld und in hohem Maße geplant und vorbereitet haben.
Bürger:innen und Polizei
In einigen Städten beteiligten sich auch Bürger:innen, die nicht Teil der rechten Szene waren, an den Angriffen der Neonazis. So beschreibt ein Augenzeuge den Angriff auf das Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen in Magdeburg-Olvenstedt: „Da wurde halt gleich um die Ecke, wo ich gewohnt hab, da war ein Vietnamesen-Wohnheim, welches dann überfallen wurde, was dann nicht nur eingefleischte Nazis waren, sondern wo das halbe Viertel mitgemacht hat.“21 In Leipzig solidarisierten sich ebenfalls Teile der Umstehenden mit den Neonazis, wie eine Zeitung berichtet: „Nach einer Verfolungsjagd durch den Stadtkern konnte die Polizei mehrere z.T. mit Messern bewaffnete Jugendliche festnehmen. Dabei kassierte sie sowohl den Beifall der Schaulustigen als auch Rufe wie ‚Rote Schweine‘ und ‚Stasiknechte‘.“22 Auch unter den Angreifer:innen in Zerbst befanden sich etliche Jugendliche, die nicht der rechten Szene angehörten.
In den meisten Fällen schritt die Polizei nicht, halbherzig oder zu spät ein – so wie sie es im Vorfeld in Teilen bereits angekündigt hatte.
Bemerkenswerterweise war die Polizei am 3. Oktober 1990 wiederum sehr gut und ausgesprochen offensiv aufgestellt, als es darum ging, in Berlin gegen die von linken Bewegungen initiierte Demonstration gegen die Vereinigung der deutschen Staaten – und die in deren Schatten zunehmende neonazistische Gewalt – vorzugehen, diese schlussendlich aufzulösen und dort etliche Teilnehmer:innen anzugreifen und festzunehmen. Zu diesem Großeinsatz der Polizei waren sogar Einheiten aus zahlreichen Städten Westdeutschlands und Hubschrauber herangezogen worden.
Die Gesamtschau lässt hier kaum einen anderen Schluss zu als den, dass staatlicherseits den angekündigten Angriffen von Neonazis auf Linke und Migrant:innen weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte als der Unterdrückung der linken Proteste gegen die Vereinigung.
Der Presse und den Medien generell waren die Angriffe der Neonazis rund um den 2. und 3. Oktober 1990 nur einige Randnotizen wert. Eine Thematisierung oder gar der Versuch einer Einordnung der Gewalt blieb genauso aus wie eine Thematisierung oder gar öffentliche Empörung von politischer Seite. Auch scheinen die Täter:innen kaum strafrechtlich verfolgt worden zu sein.
Eine Etappe auf dem Weg zu den Pogromen
Die Gewalt zum Tag der Vereinigung der deutschen Staaten unterscheidet sich so von den Pogromen der Jahre 1991 und 1992 in Hoyerswerda24, Mannheim-Schönau25, Rostock-Lichtenhagen26 und Quedlinburg27. Diese wurden von den Medien aktiv begleitet und in Teilen sogar mitinszeniert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Gewalt vom 2. und 3. Oktober 1990 weitgehend von der einigermaßen klar abgrenzbaren Neonazi- und Skinhead-Szene ausging und sich breitere Teile der Gesellschaft kaum daran beteiligten.
Insofern lassen sich die Angriffe zum Vereinigungstag einordnen als einen – bisher kaum beachteten – vorläufigen Höhepunkt einer immer weiter eskalierenden rechten Gewalt, die sich in den Pogromen 1991 und 1992 vollends entfesselte.
Auch zwei Terroranschläge
In diese Gewaltwelle ordnen sich auch zwei Terroranschläge ein. In Bonn verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf das Stadthaus und hinterließen ein neonazistisches Bekennerschreiben.28 In Winterthur in der deutschsprachigen Schweiz verübten drei Neonazis einen Handgranatenanschlag auf die vermeintliche Wohnung eines antifaschistischen Journalisten. Dabei kam aus reinem Glück niemand zu Schaden. Jedoch wurde die Wohnung weitgehend zerstört.29