9. November 1938. Überall in Deutschland werden jüdische Einrichtungen angegriffen. Schaufenster werden eingeschlagen, Menschen verprügelt und umgebracht. An vielen Orten wie hier in Potsdam brennen damals die Synagogen. Die Reichspogromnacht war nur der Auftakt für ein noch viel größeres Verbrechen: den zweiten Weltkrieg und die geplante Vernichtung von Millionen von Menschen in ganz Europa. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
9. November 2015. 77 Jahre danach. Überall in Deutschland gedenken Menschen der Ereignisse von damals, viele wollen aus der Geschichte gelernt haben, wollen eine Welt in der Auschwitz oder ähnliches nicht wieder geschehen könne. Doch nicht alle haben verstanden, nicht alle gelernt, nicht alle suchten die Auseinandersetzung. Wenn heute wieder tausende Menschen gegen Geflüchtete demonstrieren, Heime angreifen, Menschen durch die Städte hetzen, ist klar, dass der Hass und der Rassismus nicht weg sind. Mit dem Abschwächen der rechten Bewegungen Ende der 90er Jahre und dem Rückzug von einigen von ihnen in den Untergrund erschien das Problem eine Zeit lang marginalisiert. Aufmärsche wurden reihenweise gestoppt, eine faschistische Hegemonie konnte dank entschiedener Interventionen durch Bildung, linke Subkultur oder militante Angriffe in vielen Dörfern und Städten gebrochen werden.
Doch scheinbar plötzlich sind sie wieder da. Sie sind viele. Der ganz normale Bürger ist vorn mit dabei. Es gibt kaum Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Die Argumente sind irrational. Ängste, Gefühle oder abstruseste Theorien sind in den Augen derer gerade wahr genug um Geflüchtete anzupöbeln oder anzugreifen. Parolen die nichts erklären, eine Kritik durch Angepasste an Allem und am Problem vorbei.
Die Gesellschaft steckt in einer Krise. Die Reproduktionsmöglichkeiten der kapitalistischen Ökonomie stocken. Nur ein Zeichen davon ist die noch die noch nie dagewesene Staatsverschuldung, ein Anderes, menschlicheres die Fluchtbewegung von Millionen aus der ausgebeuteten und verarmten südlichen Hemisphäre in den reichen Norden. In weiten Teilen der Welt fehlt zunehmend die Grundlage menschenwürdigen Lebens. Noch nie waren die Warensammlung und die Produktivkräfte so groß; und noch nie war die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ungerechter. Niemals war klarer, dass der Kapitalismus keine angemessene Gesellschaftsform für eine solidarische, selbstbestimmte gerechte Zukunft sein kann, nie war klarer, dass Naturbeherrschung und technische Rationalität nicht Reichtum und Nahrung für alle bedeuten werden. Ganz im Gegenteil.
Das System hat sich mit seiner Logik tief in das menschliche Bewusstsein eingebrannt. Es gibt kein Außen, keine Wirtschaft ohne Tausch. Das Verhältnis zwischen den Menschen und das von Mensch und Natur ist von Ausbeutung und dem Streben nach Mehrwert geprägt. Eine radikale Kritik daran scheint verstellt. Verstellt auch durch die Komplexität der Zusammenhänge. Da liegt die Flucht in einfache Erklärungen nahe. Doch nicht nur die dumpfen
Herrenmenschen mit ihrer deutschen Überlegenheitsphantasie verfallen darin, vor allem die sozialen Verwerfungen auf wahlweise Ausländer, Kommunisten oder Juden zur projizieren. Auch linke Kritik darf sich nicht an der Regierung, an den scheiß; Nazis oder den Banken erschöpfen, sie muss das gesellschaftliche Verhältnis ins Visier nehmen, analysieren, in Frage stellen und in der Konsequenz umwälzen.
November 1918. In Europa tobt der Erste Weltkrieg. Um Territorium und Einflusssphären der imperialen Länder zu vergrößern verrotten Millionen in den Schützengräben in Ost- und Westeuropa. Das erste Mal seit Menschengedenken töten sich Menschen nach industrieller Logik gegenseitig, die Befehlshaber sprechen dabei von “Materialschlachten”, weil Unmengen von Kriegs- und in ihren Augen Menschenmaterial an den Fronten verheizt werden.
Doch am 9. November 1918 ist Schluss damit. Überall im Deutschen Reich, dem maßgebenden Aggressor dieses Krieges revoltieren wie schon 1917 in Russland in allen großen Städten die Arbeiter_innen und Soldaten gegen Krieg, Hunger und Kapitalismus. Sie machen Revolution, viele wollen sich nicht länger ausbeuten und ermorden lassen und lehnen es auch ab die Menschen auf der anderen Seite der Front sinnlos abzuschlachten. In Deutschland wird der Kaiser gestürzt der Krieg beendet und schließlich die Revolution blutig niedergeschlagen.
97 Jahre später ist heute die Erinnerung nur noch blass. Eine radikale Linke ist marginalisiert in Deutschland, eine Arbeiter_innenbewegung, die diesen Namenverdient ist nicht in Sicht, jede Revolte wurde integriert, jeder Aufschrei ist doch wieder verstummt. Doch der Gedanke nach Veränderung ist noch nicht erloschen und wir durch die gesellschaftlichen Verhältnisse täglich neu reproduziert.
Jahr ein Jahr aus wird uns die Alternativlosigkeit herrschender Politik versichert. Nur wer arbeitet und sich ausbeuten lässt hat Anrecht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nur die Ansiedlung und Subventionierung großer Unternehmen steigert den Konsum und verbessert die Lebensbedingungen, nur die Deregulierung der Märkte verheißen Wohlstand und Reichtum, nur der kapitalistische Staat und seine Institutionen entscheiden was richtig ist und was falsch, Wahlen dienen lediglich zur Legitimierung nicht zur Mitbestimmung. Doch nichts von alledem ist wahr. Die Welt und mit ihr die Menschheit steht am Abgrund. Die Natur wird in einem unvergleichlichen Ausmaß verödet, ausgebeutet und vergiftet, Tierarten ausgerottet, obwohl es anders möglich wäre, zerstört der Mensch seine eigene Reproduktionsgrundlage.
Es ist höchste Zeit dem ein Ende zu bereiten. Die Logik des Kapitals hat abgewirtschaftet. Lasst uns gemeinsam verstehen und hinterfragen, lassen wir uns nichts mehr gefallen, lernen wir wieder zu kämpfen! Kapitalismus ist ein
soziales Verhältnis und hat eine blutige und grausame Geschichte. Dies müssen wir uns klar machen! Denn es heißt, diese Geschichte hat ein Anfang und ein Ende!
Kurzfristig müssen wir unsere Apathie Überwinden, den Faschisten und i“ch bin ja kein Nazi-aber”-Idiot_innen das Leben schwer machen und rassistische Hetze unmöglich machen.
Langfristig bleibt die Aussicht: Befreite Gesellschaft oder Barbarei!