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Antifaschismus Verschwörungsideologie

Wer nur einen Hammer hat, dem kommt alles wie ein Nagel vor

In Pots­dam, aber auch in vie­len anderen deutschen Städten, demon­stri­eren und medi­tieren seit eini­gen Wochen eine krude Mis­chung aus Esoteriker*innen, Nazis und Verschwörungsmytholog*innen. Was ober­fläch­lich als eine Kri­tik der Anti-Coro­na-Maß­nah­men erscheint, ent­pup­pt sich bei näher­er Betra­ch­tung als eine verzweifelte Suche nach der Erk­lärung der Welt.

Dass ich erkenne, was die Welt im Inner­sten zusammenhält
Aus dem Ver­such Antworten auf eine ungerechte, gewaltvolle und eine die Men­schen zurich­t­ende Real­ität zu geben, wird dabei schnell eine Aneinan­der­rei­hung von wahlweise All­ge­mein­plätzen, Ver­mu­tun­gen, Sug­ges­tivfra­gen, wis­senschaftlichem Halb­wis­sen und verkürzter Wieder­gabe von Inhal­ten aus unser­iösen Youtube-Videos. Berechtigte Kri­tik an einem her­abgewirtschafteten und zusam­menges­parten Gesund­heitssys­tem sowie zunehmenden Waf­fen­ex­porten paaren sich hier mit aller­lei hanebüch­en­em Unsinn.

An diesen The­sen soll die Welt genesen
Frisch und frei von der Leber weg wer­den die unter­schiedlich­sten The­sen geäußert – allerd­ings in ein­er Form, in der den Zuhörer*innen sug­gerieren wer­den soll, das Geäußerte müsse auf jeden Fall stim­men und es sei Zeit dage­gen aufzubegehren. So präsen­tierte auch in Pots­dam die Ver­anstal­terin eine end­los lange „Was wäre wenn?“- Fra­gen­rei­he. Was wäre, wenn es wirk­lich eine Weltver­schwörung, Zwangsimp­fun­gen oder Chem­trails geben würde?Von anderen Teilnehmer*innen und auf anderen Ver­anstal­tun­gen kom­men noch jede Menge andere sich zum Teil offen wider­sprechende Ver­mu­tun­gen hinzu:Das Virus gäbe es nicht, das Virus gäbe es, sei aber nur eine Grippe oder ein Schnupfen, die Todeszahlen seien gefälscht, die Men­schen wür­den nur mit aber nicht an Coro­na ster­ben, alle soll­ten zwangs­geimpft und gechipt wer­den, die Mund‑u. Nasen­schütze seien Maulkörbe um die Men­schen ruhig zu stellen, durch die Abstand­sregeln soll­ten alle bewusst sozial isoliert wer­den, usw. Die Belege für solchen Unsinn kom­men vor allem von Inter­net­seit­en und YouTube-Kanälen soge­nan­nter „Alter­na­tivme­di­en“. Beson­ders oft zitiert wer­den dabei Ken Jeb­sen, Oliv­er Janich und Heiko Schrang. Jede noch so krude Aus­sage find­et in den Weit­en des Inter­nets ihre Bestätigung.

Der fehlende Zusammenhang
Der Zusam­men­hang von Natur, Gesellschaft und Denk­for­men, aber auch die Erforschung und Bew­er­tung eines Pan­demiegeschehens, zeich­nen sich durch eine gewisse, dem Gegen­stand ein­gen­tüm­liche Kom­plex­ität aus. Diese kann nicht mal eben im Vor­beige­hen oder durch eine hand­voll Youtube-Videos ver­standen wer­den. Mith­il­fe von Abstrak­tion (Abse­hung) und Verk­nap­pung der für die Erk­lärung unbe­d­ingt notwendi­gen Zusam­men­hänge wird eine Ersatzver­mit­tlung kon­stru­iert. Anstatt das Ver­hält­nis von Struk­tur und Hand­lung in der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft nachzu­vol­lziehen, um zu ver­ste­hen, wie jede*r Einzelne ein gesellschaftlich­es Sys­tem durch sein bewusstes und unbe­wusstes Han­deln repro­duziert, wird einzel­nen Men­schen oder „Ver­schwör­ergrup­pen“ zuge­s­tanden die Welt zu regieren oder zu manip­ulieren. Auch wenn es Kapitalist*innen geben mag, die ver­suchen Ein­fluss auf die Poli­tik zu nehmen, die Umwelt zu zer­stören oder ihre Arbeiter*innen über das „nor­male“ Maß hin­aus auszubeuten, erk­lärt dies nicht den Zusam­men­hang gesellschaftlich­er Repro­duk­tion oder mit anderen Worten: den zum Him­mel schreien­den Nor­malzu­s­tand. Niemals kön­nte in ein­er durch die kap­i­tal­is­tis­che Konkur­renz gekennze­ich­nete Welt ein Men­sch oder eine kleine Gruppe alles kon­trol­lieren. Selb­st konkur­ri­erende Staat­en sollen auf ein­mal Teil eines gemein­samen satanis­chen Planes sein, ihre Inter­es­sen­ge­gen­sätze wie durch Zauber­hand aufge­hoben. Und im Him­mel ist Jahrmarkt.Diese Vorstel­lun­gen resul­tieren in Forderun­gen die Übeltäter*innen min­destens einzus­per­ren oder wahlweise umzubringen.

Gesun­der Menschenverstand
Natur- oder Gesellschaftswis­senschaften wer­den als Stan­dard der Pan­demie- oder Wel­terk­lärung als erledigt ange­se­hen abgeschrieben und abgelehnt. Richt­en soll es der „gesunde Men­schen­ver­stand“, das „Bauchge­fühl“ oder wahlweise die „innere Stimme“. Diese kön­nten eher Auskun­ft geben über richtig und falsch, wahr und unwahr. Doch gibt es nahezu keinen Zusam­men­hang oder Gegen­stand der so ein­fach zugänglich wäre. Wesen und Erschei­n­ung fall­en nahezu immer auseinan­der. In der Geschichte der Men­schheit war es mit­nicht­en der All­t­agsver­stand, der ein Ver­ständ­nis kom­plex­er Zusam­men­hänge ermöglichte. Ganz im Gegen­teil, bedurfte es zur Klärung etlich­er Fra­gen der Wis­senschaft. Die Erken­nt­nisse des All­t­agsver­standes lassen sich im Hin­blick auf seine Geschichte gut bebildern: Die Erde ist eine Scheibe, die Sonne dreht sich um die Erde, die Pest wird durch Aus­dün­stun­gen über­tra­gen, Blitze sind Gottesstrafe, usw. Das soll nicht bestre­it­en, dass auch Wis­senschaft Abhängigkeit­en aufweist, ger­ade in Hin­blick auf Gesellschaft­s­the­o­rien. Nur kann für eine Erken­nt­nis kom­plex­er Zusam­men­hänge nicht auf sie verzichtet werden.

Wir sind das Volk
Eine Losung, die selb­ster­nan­nte Wahrheitsfinder*innen mit PEGIDA und Mon­tags­mah­nwachen vere­int ist ein offen­siv gebrülltes „Wir sind das Volk“. Es ist der Ver­such Homogen­ität und Gemein­samkeit gegen Dif­ferenz und Wider­sprüche gel­tend zu machen. Eine Gesellschaft, die sich tren­nt durch ein Auseinan­der­fall­en in Arm und Reich, durch die Zurich­tun­gen des Patri­archi­ats, durch Ras­sis­mus und andere Zumu­tun­gen soll durch diese heimel­nde Parole zusam­menge­führt wer­den. „Wir“ wer­den hier „ver­arscht, bel­o­gen und bet­ro­gen“. Wer in Deutsch­land das „Wir“ ist, wird nicht näher erläutert. Sich­er nicht damit gemeint sind die Leute, die in Zeit­en der Krise durch eine Dop­pel­be­las­tung von Beruf und Kinder­be­treu­ung lei­den, in Geflüchteten­heimen oder Schlachthäusern ein­er erhöhtem Ansteck­ungs­ge­fahr aus­ge­set­zt sind oder die Men­schen, die durch ein Ver­let­zen der Abstan­dregelun­gen poten­ziellen Gesund­heits­ge­fährdun­gen unterliegen.

Medi­enkri­tik? Fehlanzeige!
Wie nahezu alle Arbeit­spro­duk­te wer­den auch Medi­enerzeug­nisse im Kap­i­tal­is­mus zur Ware. Nicht allein Ser­iösität, valide Quellen oder eine prag­ma­tis­che Auf­machung entschei­den über Erfolg oder Mis­ser­folg eines Medi­enun­ternehmens. Wie alle anderen Unternehmen auch ste­hen sie in Konkur­renz zueinan­der, ver­suchen durch reißerische Schlagzeilen, Exk­lu­sivgeschicht­en u.ä. Verkauf­szahlen zu erhöhen oder Wer­beanzeigen zu gener­ieren. Auch Konz­erne, Parteien oder andere Inter­es­sen­grup­pen ver­suchen Ein­fluss zu nehmen auf die Berichter­stat­tung und bisweilen gelingt ihnen das auch. Doch als Kri­tik daran diese nun wahlweise flach als „Main­streamme­di­en“ oder faschis­tisch kon­notiert als „Lügen­presse“ darzustellen und sich stattdessen ver­meintlichen „Alter­na­tivme­di­en“ zuzuwen­den geht offen­sichtlich am Prob­lem vor­bei. Spätestens nach­dem die AfD andere Parteien als „Alt­parteien“ abkanzelte, um dann selb­st in Spenden­skan­dale ver­wick­elt zu wer­den und den eige­nen Ange­höri­gen Ämter zuzuschieben, müsste all­ge­mein bekan­nt sein, dass neue Namen nicht die Funk­tion­sweise ein­er Insti­tu­tion verän­dern. Genau­so wie die großen Medi­en, müssen auch Janich, Schrang, Jeb­sen und Co. ihr Geschwurbel an die Leute brin­gen. Eine Welt ohne Ver­schwörung, Zwangsimp­fung und per­man­tentes Regierungsver­sagen wäre für sie der schnell­ste Weg in die Insolvenz.

Alles rel­a­tiv!
Ein weit­eres Merk­mal der Demon­stri­eren­den ist die Rel­a­tivierung. Egal ob Gle­ich­set­zung des nation­al­sozial­is­tis­chen Massen­mor­dens mit der Impflicht, der die Abstand­sregeln durch­set­zen­den Polizei mit der Stasi oder der Ver­gle­ich des eige­nen Rumgeschwurbels mit dem antifaschis­tis­chen Wider­stand gegen die Nazis 1933. Kein Ver­gle­ich hinkt zu sehr, um ihn nicht zu benutzen. Es ist egal, dass Men­schen geschützt und auch nie­mand wegen sein­er Mei­n­ung abge­haftet wird, ja sog­ar jeglich­er Unsinn übers Inter­net Ver­bre­itung find­et. Neben der völ­li­gen Unken­nt­nis his­torisch­er Ereignisse und Epochen zeugt dieses Denken vor allem von voll­ständi­ger Selbstüberhöhung.

Cui Bono – Wes Brot ich ess, des Lied ich sing
Die beliebteste Frage verkürzter oder ober­fläch­lich­er Gesellschaft­skri­tik bleibt „Cui bono?“ oder „Wem nützt es?“Diese vere­in­fachende Frage führt bei den Hygien­edemos auf der einen Seite zu mas­siv­en Ver­drehun­gen. Wie lässt sich im Sinne eines Nutzenkalküls erk­lären, dass Staat­en ihre kom­plet­ten wirtschaftlichen Poten­zen schrot­ten und somit nahezu alle gesellschftlichen Grup­pen, wenn auch in unter­schiedlichem Aus­maß, schädigen?Dies mit dem Nutzen für die Phar­malob­by zu erk­lären ent­behrt jeglich­er Grund­lage. Als ob konkur­ri­erende Unternehmen oder der Staat sich das ein­fach gefall­en lassen wür­den. Außer­dem steckt in der Frage immer schon die Antwort drin. Wenn ich nach dem „Wem“ frage, bleibt nur eine Per­son oder Gruppe als Anwort übrig. Nur lassen sich Krieg, Umweltzer­störung, Aus­beu­tung und Pan­demie eben nicht monokausal mit dem Nutzen für Einzelne erk­lären. Da geht es um einen Gesamtzusam­men­hang von Natur und Gesellschaft oder um eine spez­i­fis­che his­torische Aus­for­mung diese Zusam­men­hanges. Wenn sich bes­timmte Ereignisse im Han­deln der Men­schen wieder­holen, wer­den diese durch beste­hende Struk­turen begün­stigt und nicht durch eine kleine Gruppe betrügerisch her­beige­führt. Wenn es so sein sollte, warum wer­den diese Ver­schwörun­gen aus­gerech­net von Men­schen aufgedeckt, die wed­er über Verbindun­gen ins Zen­trum des Staates, noch über son­stige Qual­i­fizierun­gen zur Aufk­lärung ver­fü­gen? Wir fra­gen ja nur…

Alles öko oder was?
Ein weit­er­er Erzählstrang auf den Kundge­bun­gen ist die Ökothese. Die Natur sei aus dem Gle­ichgewicht gekom­men, es müsste mehr Essen selb­st ange­baut wer­den und über­haupt müsse nur gesund gegessen wer­den und ein paar Glob­u­li hin­ter­hergekippt wer­den um die eigene Gesund­heit zu erhal­ten. Dass die Steigerung der Lebenser­wartung eng zusam­men­hängt mit mod­ern­er Medi­zin und anderen tech­nis­chen und gesellschaftlichen Errun­gen­schaften und sozialen Kämpfen, wird dabei nach bekan­ntem Muster aus­ge­blendet. Die Entwick­lung der gesellschaftlichen Arbeit als Ver­mit­tlung zwis­chen Natur und Gesellschaft lässt sich eben nicht ein­seit­ig kri­tisieren. Seit es die Men­schheit gibt, hat sie sich selb­st und ihre Umwelt verän­dert. Durch ihr Han­deln z.B. Abholzung, Viehzucht, Jagd, Städte­bau usw. haben Men­schen Ein­fluss auf die Natur genom­men. Eine Natur im Gle­ichgewicht kann es nur ohne Men­schen geben (was auch immer Gle­ichgewicht für eine sich ständig verän­dernde Natur bedeutet). Richtig ist hinge­gen die Form des Zusam­men­hangs zu kri­tisieren und zu verän­dern. Die kap­i­tal­is­tis­che Reich­tum­spro­duk­tion degradiert die Natur zu einem Mit­tel der Prof­itwirtschaft, genau­so wie den Men­schen auch. Der beste­hende Wider­spruch des momen­ta­nen Stof­fwech­sels zwis­chen Men­sch und Natur kann eben nicht nach ein­er Seite hin aufgelöst wer­den. Passiert dies auf­seit­en der Natur müssen die Men­schen weichen, passiert dies auf der Seite der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft geht dieser irgend­wann die Grund­lage men­schlichen Lebens flöten. Es gab zwis­chen bei­den Seit­en nie ein Gle­ichgewicht, nur eine Bewegungsform.Abzuschaffen ist die kap­i­tal­is­tis­che Produktionsweise!

Was tun?
In Pan­demiezeit­en sind diese Aufzüge und Zusam­menkün­fte beson­ders gefährlich. Nicht nur wer­den sämtliche Abstands- und Hygien­eregeln außer Acht gelassen und so eine erneute Ver­bre­itung des Virus begün­stigt. Auch diskred­i­tieren sie notwendi­ge Anliegen, wie z.B. verbesserte Arbeits­be­din­gun­gen und Bezahlun­gen für Pfle­gende und andere Kranken­haus­mi­tar­bei­t­ende, eine ständi­ge Über­prü­fung der Infek­tion­ss­chutz-Maß­nah­men, die Ermöglichung von Hygiene- und Abstand­sregeln auch für refugees durch die Evakuierung aus den Lagern und eine dezen­trale Unter­bringung und schließlich den Protest gegen die ungerechte Verteilung der Krisen­las­ten. Wer Nazis auf Demos duldet, sich anti­semi­tis­chen und irra­tionalen Wel­terk­lärun­gen öffnet und bewusst andere gefährdet, muss mit Gegen­wind rech­nen! Eine Kri­tik an den beste­hen­den Ver­hält­nis­sen muss tiefer gehen als das para­noide Gefrage nach Ver­schwörung und Ver­ant­wor­tung. Es bleibt eben kompliziert.

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