In diesem Jahr gab es erstmalig zwei Gedenkveranstaltungen, um an die Schrecken der Novemberpogrome zu erinnern.
Gedenken am ehemaligen jüdischen Altenheim in Babelsberg
Bei einer Veranstaltung am Vormittag wurde an einem authentischen Ort der Shoa, dem ehemaligen jüdischen Altenheim in der Spitzweggasse 2a, gedacht. Von hier aus gingen 1943 die letzten Transporte aus Potsdam in die Vernichtungslager. In den Redebeiträgen wurde auf die Enteignungen in Neu-Babelsberg eingegangen und welche Orte seit 1933 von NS-Verbänden
besetzt und bewohnt worden sind. Anschließend wurden von ca. 30 Menschen am Gedenkstein Blumen und Kränze niedergelegt, sowie mit einer Schweigeminute der Novemberpogrome gedacht.
Gedenken am OdF Mahnmal
Um 19 Uhr trafen sich ungefähr 200 Leute am Denkmal für die Opfer des Faschismus am Platz der Einheit. In mehreren Beiträgen wurde an die Geschehnisse der Novemberpogrome erinnert und ein Gedicht von Halina Birenbaum verlesen. Ein Redebeitrag von der Emanzipatorischen Antifa Potsdam kennzeichnete die lange Tradition von Antisemitismus, auch vor 1933, in Deutschland und dass dieser bis heute tief in der Gesellschaft verankert ist.
Dazu sagt Lisa Redlich von der EAP „Gedenken ist nicht nur das
Erinnern an ein bestimmes Ereigniss oder an eine bestimmte
Begebenheit. Es ist auch wichtig zu betrachten wie es zu dem Ereignis gekommen ist und dann daraus auch die Schlüsse auf das hier und heute zu ziehen“ Den Redebeitrag finden sie weiter unten in der kompletten Länge.
Respekt- und würdeloses Verhalten der Polizei Brandenburg
Dass die Polizei Brandenburg jegliche Würde verloren hat, zeigte sich gestern mal wieder. Ein Gedenken von Opferverbänden und
Antifaschisten*innen zu stören, in dem sie einen Verantwortlichen
wollen, ist ein Skandal und zeigt, dass sie jegliches
Geschichtsverständnis vermissen lassen. In Brandenburg müssen
Gedenkveranstaltungen nicht angemeldet werden, weshalb ihre Nachfrage wie eine Provokation und Schikane wirkte.
Fotos unter: https://www.flickr.com/photos/presseservice_rathenow/49040300236/in/album-72157711714431958/
Redebeitrag der EAP:
Heute stehen wir wieder hier am Mahnmal für die Opfer des Faschismus.
Jedes Jahr müssen wir erneut feststellen, wie wichtig eine aktive
Gedenkkultur ist und wie wichtig es ist aus dem Gedenken Rückschlüsse auf das hier und heute zu ziehen! Vor exakt einem Monat, dem 9.10.2019 kam es zu einem neonazistischen Angriff auf eine Synagoge in Halle.
Dabei starben zwei Menschen. Der Angriff, der am jüdischen Feiertag Jom Kippur stattfand, zielte klar gegen Jüdinnen und Juden.
Der 9.11. ist ein Datum von herausragender Bedeutung. Vor 81 Jahren wurden Synagogen und Geschäfte jüdischer Menschen zerstört, Menschen wurden verhaftet und ermordet. Auch hier direkt hinter uns wurde die Synagoge geplündert und ausgeraubt. Keine 100 Meter weiter links wurde das Geschäft von Abraham Kallmannsohn in der Schwertfegerstraße 1 geplündert und er wurde im KZ Sachsenhausen interniert. An diese Gräueltaten zu erinnern ist die Verantwortung derer wir uns heute annehmen müssen. Erinnern heißt nicht vergessen.
Der 9.11.1938 war Testlauf und Startpunkt für die spätere systematische Vernichtung durch Massenerschießungen in Osteuropa und Vergasungen in den Konzentrationslagern. Nach dem 9.11.1938 war klar, dass gegen antisemitische Hetze und Gewalttaten aus der deutschen Bevölkerung nicht mit Widerstand zu rechnen war – ganz im Gegenteil!
Die Aneignung von und Auseinandersetzung mit der Geschichte muss bis in unsere Gegenwart hineinreichen! Auch wenn Deutschland 1945 besiegt wurde, ist der Antisemitismus in großen Teilen der Gesellschaft verblieben und erneuert sich unentwegt. Alleine im letzten Jahr gab es 1.799 dokumentierte antisemitische Angriffe. Das sind 5 antisemitische Angriffe am Tag!
Dieser moderne Antisemitismus hat eine lange Tradition in Deutschland. Schon Jahrzehnte bevor die Nationalsozialist*innen die Macht in die Hände gelegt bekamen. So kam es beispielsweise schon 1916, mitten im ersten Weltkrieg, zu sogenannten „Judenzählungen“ in der Reichswehr. Mit dieser Zählung sollte geklärt werden, ob Juden ihre sogenannten „vaterländischen“ Pflichten in ausreichender Zahl erfüllten. Die Ergebnisse dieser staatsoffiziellen Untersuchung wurden nicht an die
große Glocke gehangen, denn von den 500.000 deutschen Juden diente 1/5 in der Reichswehr. Die für „Kaiser und Vaterland“ kämpfenden Juden erhofften sich durch ihren Kampfeinsatz die volle Gleichberechtigung und Anerkennung der deutschen Gesellschaft zu erkämpfen. Aber noch nicht einmal unter Einsatz ihres Lebens war ihnen dies möglich. Sie galten weiterhin als Projektionsfläche. Alle Auswüchse und Missstände des sich
etablierenden Kapitalismus wurden mit ihnen identifiziert und somit personalisiert. Ein Umstand, der aus der kapitalistischen
Warenproduktion und dem ihr notwendigen falschen Alltagsbewusstsein erwächst. Dabei war für die Antisemiten unerheblich, was Juden in der Realität taten oder wer sie waren. Denn, wie Adorno so treffend formulierte: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden.“
Nach der Beendigung des ersten Weltkrieges durch die Kapitulation des deutschen Reiches nahm der Antisemitismus folglich nicht ab. Im Gegenteil, auch die Aufstände und Massenstreiks der Jahre 1918 und 1919 wurden nicht lediglich auf eine kriegsmüde, nach Brot und Freiheit strebende Bevölkerung zurückgeführt, sondern von Beginn an galten die Urheber*innen als „jüdische Bolschewist*innen“. Und entsprechend hart wurde mit ihnen umgegangen.
Liebe Zuhörende, der 9. November ist nicht nur der Tag an dem wir der Reichspogromnacht mit ihren Schrecken und grausamen Folgen gedenken. Wir gedenken auch der Tausenden Toten die von Freikorps ermordet wurden. Diese Freikorps bestanden zumeist aus ehemaligen Soldaten, die sich nach der deutschen Niederlage zum Schutz eines reaktionären Deutschlands zusammen schlossen. Sie unterstanden dem damaligen SPD-Verteidigungsminister Noske und handelten auf seinen Befehl. So auch als sie in Berlin im März 1919 ein Massaker an linken Proletarier*innen anrichteten. Damals flogen erstmals Flugzeuge Luftangriffe und schmissen Brandbomben auf Wohnviertel. Maschinengewehre wurden in
belebten Straßen eingesetzt. Diese Gewalt übertraf in ihrer Stärke und Durchschlagskraft die vorher eingesetzte revolutionäre Gewalt um ein Hundertfaches. Wurden während der Novemberrevolution 1918 nur Wenige getötet, fielen der entfesselten Gewalt der Freikorps allein im März 1919 in Berlin 1.200 Menschen zum Opfer: größtenteils Zivilist*innen. An diesen Gewaltausbrüchen waren auch Potsdamer Freikorps beteiligt. Zu nennen sind hier das Freikorps Potsdam und das Freikorps Hülsen, beide
waren in Potsdam stationiert. Das Potsdamer Freikorps Hülsen ging später als Teil der 3. Infanterie Division in der Wehrmacht auf und war unter anderem am Überfall auf Polen im Jahr 1939 beteiligt.
Es dürfte also niemanden der Anwesenden verwundern, wenn sich die Angehörigen und die Kommandierenden der Potsdamer Freikorps oder anderer Freikorps Verbände später den Nazis anschlossen oder sogar an deren Spitze stellten.
In der Zeit nach Beendigung des 1. Weltkrieges und vor der Machtübergabe an die NSDAP fühlten sich auch schon verschiedene Täter (es waren und sind ja meist Männer) dazu berufen Morde und Massaker an vermeintlichen oder realen Gegner*innen zu begehen. Damals wie heute handelt es sich bei den Tätern angeblich um Einzeltäter. Damals wie heute sind diese Menschen eingebunden in ein politisches Umfeld das geprägt ist von Untergangsängsten und Bedrohungsszenarien. Damit wirre Ideen aber zu Taten werden, braucht es mehr: Es braucht eine indifferente oder sich sogar positiv auf die Taten beziehende Bevölkerung und es braucht einen Staat, welcher die antijudaistische, die antisemitische, die faschistische oder rassistische Bedrohung konftontationslos hinnimmt.
Hierzu braucht es weiterhin eine Gesellschaft in der die
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen nicht bewusst geregelt sind, sich die Menschen in freier Konkurrenz als Privateigentümer*innen gegenüberstehen und menschliches Handeln lediglich als persönliches Fehlverhalten ausgelegt wird,begründet durch persönliche Überzeugung oder Abstammung. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich seitdem nie grundlegend geändert!
Angesichts des im Brandenburger Landtag sitzenden bayrischen Neonazis Kalbitz, der bis heute nicht verbotenen rechts-terroristischen Organisation Combat 18 oder der weithin bekannten Unterstützung (neo)nazistischer Gruppen durch Teile des deutschen Sicherheitsapparates muss klar sein, dass eine faschistische Gefahr mitnichten gebannt ist!
Fakt ist, dass auf die Reichspogromnacht jahrzehntelang hin gearbeitet wurde und es ist wichtig sich nicht nur dieses Datum mit all seinen Schrecken ins Gedächtnis zu rufen, sondern auch die unzähligen Grausamkeiten, die den Weg dorthin geebnet haben und danach noch folgten. Denn nur so ist Lernen aus der Geschichte möglich. Nicht indem wir uns an, vom Fluss der Geschichte losgelöste, singuläre Ereignisse erinnern, sondern indem wir die Geschichte als von Menschen gemachte Realität anerkennen, in der viele verschiedene Aspekte zu dem führten dessen wir heute mahnen wollen.
Gegen jeden Antisemitismus!