(MAZ, 30.8.04) Samstagnacht kam es auf dem Protzener Dorffest zu einer versuchten Körperverletzung.
Nach einer verbalen Auseinandersetzung zwischen mehren Personen, versuchten zwei von
ihnen, einen 24-Jährigen zu schlagen. Dieser konnte jedoch ausweichen und flüchten.
Grund der Streitigkeiten waren Meinungsverschiedenheiten aufgrund unterschiedlicher
politischer Gesinnung. Als ein Tatverdächtiger wurde ein 22-Jähriger aus Neuruppin
ermittelt, der zu einer zirka 15-Mann großen Gruppe Jugendlicher gehörte, die
augenscheinlich der rechten Szene zuzuordnen waren.
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160 Wahlplakate abgerissen
(Berliner Morgenpost, 30.8.) Brandenburg — Rund 160 Wahlplakate der rechten Deutschen Volksunion (DVU) sind in
der Nacht zum Sonnabend in Brandenburg/Havel abgerissen und teils zerstört worden.
Es sei eine Anzeige aufgenommen worden und es werde ermittelt, teilte die Polizei
gestern mit.
Körperverletzung bei Stadtfest
Sonntag kam es in der Nähe des Stadtfestes in der Karl-Marx-Straße kurz
nach Mitternacht zu einer Körperverletzung. Während die Polizei die
Anzeige aufnahm, zeigten zwei Jugendliche den Hitlergruß. Gegen beide
ermittelt nun die Kripo wegen Verwenden von Kennzeichen
verfassungswidriger Organisationen. Eine weitere jugendliche Person
behinderte massiv die erforderlichen polizeilichen Maßnahmen, sodass
eine Platzverweisung ausgesprochen werden musste.
Samstagabend wurde die Polizei nach Brüssow gerufen. Mehrere Jugendliche
hatten sich in Trampe getroffen und rechtsradikale Musik in der
Öffentlichkeit abgespielt. Zwei Personen, ein 21-jähriger Mann und eine
25-jährige Frau, setzten dabei der Polizei Widerstand entgegen. Durch
diese Handlungen wurden drei Beamte leicht verletzt. Die Identität aller
Anwesenden wurde festgestellt, Platzverweise erteilt und eine Person
vorläufig festgenommen. 30 CDs stellten die Polizisten sicher.
Schimpftiraden gegen die SPD
(MAZ, Frank Schauka) POTSDAM Von seinem ihm offenbar irgendwie zustehenden Anrecht, auch
einmal beherzt “Arschloch!” schreien zu dürfen, machte das “Volk”
gestern Abend in Potsdam vor der Landeszentrale der Brandenburger SPD
mitunter gern Gebrauch — auch wenn das Gebäude erkennbar menschenleer
war. 500 Hartz IV-Gegner hatten sich trillernd, rufend und
Protestplakate reckend vom Platz der Einheit zu dem etwa 500 Meter
entfernten Parteisitz aufgemacht, um — so der Plan — Vertretern der
Regierungspartei einen Forderungskatalog zu übergeben: “Stoppt Hartz IV”
und “Keine Steuersenkung für Reiche” zählten dazu. Da sich jedoch kein
Adressat zeigte, wurden die Transparente an den Zaun vor dem Gebäude
abgestellt.
“Wir waren in Prenzlau und sind jetzt in Senftenberg”, erklärte
SPD-Landesgeschäftsführer Klaus Ness gestern Abend die Leere in der
Potsdamer SPD-Zentrale. Die Demonstration am Nachmittag in der
uckermärkischen Kreisstadt Prenzlau mit 600 Besuchern sei ohne Proteste
gegen Ministerpräsident Matthias Platzeck verlaufen. “Die Rede wurde
nicht gestört”, so Ness. Bei der Montagsdemo gestern Abend auf dem
Marktplatz von Senftenberg in Landkreis Oberspreewald-Lausitz seien etwa
1000 Hartz-Gegner versammelt — deutlich weniger als vor einer Woche, als
sich 3000 Demonstranten dort zusammengefunden hatten. “Der Höhepunkt ist
überschritten”, vermutet Ness.
Landesweit sind gestern abermals mehrere tausend Menschen gegen die
beschlossene Arbeitsmarktreform auf die Straße gegangen — die die
rot-grüne Bundesregierung unter Mitwirkung von CDU/CSU beschlossen
hatte. In Cottbus demonstrierten 1500 Hartz IV-Gegner, in Eberswalde,
Eisenhüttenstadt und Prenzlau jeweils 600. Nach Angaben der Polizei
waren Montagsdemonstrationen an mehr als 20 Orten in Brandenburg
angekündigt. Am frühen Abend zählte die Polizei etwa 6500 Demonstranten
landesweit.
“Wie soll ich mit meinem Geld klarkommen?” rief eine rothaarige Frau vor
der SPD-Landeszentrale in Potsdam in die Menge. Mit einer Freundin
skandierten sie dann “Wir sind das Volk” so oft, bis auch andere sich
angesprochen fühlten. “Wo sind die Feiglinge?” hieß es bald und “Komm
raus, du Arschloch!” “Heute ham se schiss.” Die meisten Demonstranten
standen jedoch schweigend vor dem Haus.
Die Demo löste sich nach etwa einer Stunde wie auf Kommando auf. “Wir
machen weiter, bis sich was bewegt”, sagte ein älterer Herr auf dem Weg
zurück. Sie werde auch bald keine Arbeit mehr haben, klagte seine
Ehefrau. Ein junger Vater mit seinem Kind auf dem Arm wandte sich vom
SPD-Sitz ab und passierte die Straße. Der rote Opel Vectra der
Familienpartei, die die Demonstration angemeldet hatte, blieb noch ein
wenig vor der Parteizentrale zurück. Von dem Schild der DKP mit dem
Slogan “Wacht auf, Verdammte dieser Erde” war rasch nichts mehr zu sehen.
Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Untreueverdachts / Streit um
geplatzte Theateraufführung
(Berliner Zeitung, Martin Klesmann) RAVENSBRÜCK. Das gab es noch nie: Eigentlich hält die Stiftung
Brandenburgische Gedenkstätten in den einstigen Konzentrationslagern
Sachsenhausen und Ravensbrück die Erinnerung an die na-
tionalsozialistischen Verbrechen wach. Doch nun ermittelt die
Staatsanwaltschaft Berlin gegen die Gedenkstätten-Stiftung wegen
Betrugs- und Untreueverdachts. Projektgebundene Fördermittel sollen in
den Etat der Stiftung umgeleitet worden sein. “Es liegt eine Anzeige
vor”, sagte Michael Grunwald, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Die
Anzeige stammt vom Geschäftsführer und vom künstlerischen Leiter der
Freien Theateranstalt Berlin — Josef Vollmer und Hermann van Harten.
Letzterer inszenierte in dem Berliner Hinterhof-Theater am Klausener
Platz das Stück “Ich bin es nicht, Adolf Hitler ist es gewesen”, das
dort lange Jahre lief.
Zum Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ Ravensbrück nun sollte Hermann
van Harten das Theaterstück “Königinnen” in der Gedenkstätte aufführen.
Doch nach etlichen Querelen mit der Gedenkstätten-Stiftung entzog diese
schließlich Mitte Mai den Theaterleuten und der katalanischen Autorin
des Stückes, Marisa Esteban, den Auftrag. “Die Vorwüfe sind völlig aus
der Luft gegriffen”, sagte Stiftungssprecher Horst Seferens. “Die
Auftragnehmer waren ihren vertraglichen Verpflichtungen wiederholt nich
nachgekommen.” Offenbar lag weder ein fertiges Manuskript vor noch war
sichergestellt, dass der bereits einmal verschobene Aufführungstermin
gehalten werden kann.
Auch Katalanen gaben Geld
Das Theaterstück “Königinnen” wurde mit insgesamt 230 000 Euro
gefördert, allein 100 000 Euro stellte die Wuppertaler Ertomis-Stiftung.
Das Bundesfrauenministerium gab 50 000 Euro, auch die katalanische
Regionalregierung, die Siemens-Stiftung und das Potsdamer
Kulturministerium beteiligten sich. Vollmer und van Harten behaupten
nun, dass mehr als die Hälfte der Fördermittel gar nicht für das
Theaterstück an sich, sondern für andere Posten verwendet worden sein
sollen. So seien der Werbeetat, aber auch der Etat der Produzenten aus
ihrer Sicht überhöht gewesen “Und allein 15 000 Euro der Fördermittel
sind für Rechtsanwaltskosten aufgebracht worden, was überhaupt nicht
nachvollziehbar ist”, sagt Hermann van Harten. Da die Off-Theater-Macher
hierin eine Veruntreuung Projekt-bezogener Fördermittel sehen, haben sie
die Anzeige erstattet.
Die Gedenkstätten-Stiftung ist nun um ihren guten Ruf besorgt, zumal der
Großteil der Fördermittel bereits ausgegeben ist. Die Stiftung teilte am
Montag mit, dass dies mit den Geldgebern aber bereits abgerechnet worden
sei. Mehrere Sponsoren hätten darüber hinaus zugestimmt, dass Restmittel
für andere Projekte der Stiftung zur Verfügung stünden. Das Land
Brandenburg aber wird von den 10 000 Euro Fördermitteln ohnehin nichts
mehr wiedersehen. “Diese 10 000 Euro Vorlaufkosten sind weg”, sagte
Holger Drews, Sprecher des Potsdamer Kulturministeriums am Montag.
Die katalanische Autoren Marisa Esteban wollte das Theaterstück in
Ravensbrück ursprünglich selbst inszenieren. Dabei sollten Schicksale
von Frauen im Mittelpunkt stehen, die seinerzeit in Ravensbrück
inhaftiert waren. Die geplante Inszenierung war groß angelegt: Auch jene
Originalbusse des Schwedischen Roten Kreuzes sollten zum Einsatz kommen,
mit denen seinerzeit skandinavische KZ-Häftlinge nach
Geheimverhandlungen aus dem Lager gebracht worden sind. Das Theaterstück
“Königinnen” sollte zunächst nur fünf Mal in Ravensbrück aufgeführt
werden, und das Ensemble dann an anderen Orten gastieren. So waren auch
Aufführungen in Barcelona, der Heimat der Autorin, geplant.
Schließlich aber gab die Autorin die Regie ab und beauftragte Hermann
van Harten damit. Dieser legte sich dann offensichtlich mit der Stiftung
an, weil er mehr Geld für sein Ensemble haben wollte. Die
Gedenkstätten-Leiterin von Ravensbrück, Sigrid Jacobeit, wollte das
Stück daraufhin lediglich als Lesung zur Aufführung kommen lassen. Der
Streit eskalierte.
Potsdam 30. August ap Wegen versuchten Mordes und Brandstiftung müssen
sich seit Montag drei junge Rechtsextremisten vor dem Landgericht
Potsdam verantworten. Den Angeklagten zwischen 19 und 21 Jahren wird
vorgeworfen, im vergangenen Februar aus fremdenfeindlicher Gesinnung
heraus einen Döner-Imbiss im brandenburgischen Brück angezündet zu
haben, um den türkischen Inhaber und dessen Mitarbeiter aus der Stadt zu
vertreiben. Dabei sollen sie den Tod des Imbissbesitzers billigend in
Kauf genommen haben.
Der Anklage zufolge haben die jungen Männer am 6. Februar gegen 3 Uhr
nachts einen Molotow-Cocktail durch das Schaufenster des Imbisses
geworfen. Dabei hätten sie gewusst, dass der Betreiber des Geschäftes
regelmäßig in dem Gebäude übernachtete. Die Flammen hätten sich schnell
im Gastraum ausgebreitet und eine Jalousie, eine Vitrine sowie einen
Zeitungsständer erfasst. Der türkische Imbisswirt sei von dem Lärm
aufgewacht und habe das Feuer löschen können. Dabei soll er sich jedoch
Verbrennungen an den Händen sowie von auf dem Boden liegenden
Glasscherben Schnittwunden an den Füßen zugezogen haben. Das Urteil soll
am 13. September gesprochen werden.
In Rathenow wurden in der Nacht zum 23.08.2004 vier Linke von
vermummten Neonazis überfallen, ein Opfer wurde schwer verletzt.
Für Florian E. war es der zweite Überfall in diesem Jahr. Der
18-Jährige, der sich offen gegen Rechtsextremismus engagiert, war
schon im März in Göttlin bei Rathenow in einen Hinterhalt geraten. Ein
Mob betrunkener Rechtsradikaler demolierte sein Auto, an dem ein
Schaden von 2000 Euro entstand. In der Nacht zum 23.08.2003 fuhr er
gegen 1:15 Uhr mit drei Freunden die Bammer Landstraße entlang, als
ein Auto hinter ihm Lichthupe gab. Sie stiegen aus, und schon stürmten
vier mit Hassmasken vermummte Neonazis auf Kommando auf sie los.
Florian und ein Freund wurden mit Totschlägern geschlagen, konnten
aber flüchten. Nicht jedoch ein 26-jähriger Freund, den die Neonazis
schwer zusammenschlugen. Er musste mit Kopfplatzwunden ins Krankenhaus
gebracht werden. An Florians Auto wurden alle Scheiben eingeschlagen,
der Innenraum war voller Blut.
Hintergrund des Überfalls war offenbar, dass die Rechtsextremisten
gerade eine Hetzjagd auf Personen veranstalteten, die angeblich
Wahlplakate der DVU beschädigt haben sollen. Dabei erkannten die
Neonazis Florian, der mit seinem Auto zufällig vorbei kam. Bei den
Tätern soll es sich um das Umfeld der neonazistischen Kameradschaft
“Hauptvolk” aus Rathenow handeln.
Kay Wendel vom Verein Opferperspektive merkt dazu an: “Die
Gefährlichkeit der rechten Szene in Rathenow scheint ungebrochen. Im
Umfeld der Kameradschaft Hauptvolk werden immer wieder äußerst
brutale Gewalttaten verübt, allein zwölf im letzten Jahr. Wie sich
hier Neonazis als Wahlkampfhelfer der DVU betätigen, das allerdings
wirft ein Licht auf die Verwandtschaftsbeziehungen im braunen Sumpf
Brandenburgs. Persönlich verantwortlich sind die Täter, die
hoffentlich bald zur Rechenschaft gezogen werden, moralisch
verantwortlich sind aber auch die rechten Phrasendrescher
von der DVU.”
Neonazis im Wahlkampf
Nach dem sich von den rechtsextremen Parteien im Westhavelland zunächst die
DVU durch massive Plakatierungen anlässlich der Brandenburger Landtagswahlen
am 19.September im Raum Rathenow — Premnitz — Rhinow hervortaten, rückte die
weitaus kleinere rechtsextreme Wählerinitiative “Ja zu Brandenburg” aus
Pritzwalk jetzt mit eigenen Aktionen nach.
Am vergangenen Samstagmorgen verteilten mehrere zum Teil namentlich bekannte
Neonazis aus den westhavelländischen Kameradschaften “Hauptvolk” und “Sturm
27″ Flugblätter von “Ja zu Brandenburg” als Postwurfsendung in Rathenow und
Premnitz.
Inhaltlich wird in dem verteilten Propagandamaterial in trivialer Weise mit
der Politik der großen Parteien SPD, CDU und PDS abgerechnet. Das
“lebensfeindliche” und “asoziale” System der BRD sei aber der eigentliche
Fehler. Alternativen dazu werden aber nicht angeboten. Lediglich die
Forderung nach einer “Neuen Ordnung” wird gestellt.
Eine “Bewegung Neue Ordnung” wurde bereits am 1.Februar 2004 unter Führung
des ehemaligen NPD — Landesvorsitzenden Mario Schulz in Vetschau gegründet.
Zufällig zeichnet sich Schulz auch für die Flugblätter von “Ja zu
Brandenburg” verantwortlich und kandidiert auch für die Wählerinitiative im
Wahlkreis I (Prignitz). Ein weiterer nicht unbekannter Kandidat für “Ja zu
Brandenburg” ist Martin Winterlich aus Zernitz — Lohm. Winterlich, der für
den Wahlkreis 4 (Havelland III — Neustadt/Dosse, Rhinow, Rathenow,
Premnitz)als Direktkandidat antritt, zeichnete sich unlängst für Flugblätter
verantwortlich, die ein “Bund Nationaler Sozialisten” aus Pritzwalk
anlässlich des Todestages des NS — Kriegsverbrechers Rudolf Heß u.a. in
Rathenow und Neuruppin verteilte.
Antifaschistische Gruppen im Westhavelland
Brandenburg vor der Wahl — Das schwierige Deuten von Stimmungen
(Freitag, 20.8., Marina Achenbach) Alle Tische einschließlich des Küchentischs sind mit neuesten Artikeln über Brandenburg bedeckt. Die demoskopische Befragung, die so viele Kommentare, auch Gehässigkeiten auslöste, ist erst fünf Tage alt: sie ergab, dass die Brandenburger die PDS zur stärksten Partei machen würden, wenn an diesem August-Sonntag Wahlen wären. Sie werden in gut vier Wochen, am 19. September, stattfinden. 29 Prozent für die PDS, 28 für die SPD und 26 für die CDU, sagt die Umfrage. Diese drei Parteien eröffnen gerade jeweils ihren Wahlkampf. Mitte der neunziger Jahre begann im Land ein ökonomischer Abstieg. Die Zuwachsraten sind inzwischen die kleinsten im Osten. Dabei gehörten die Brandenburger 1991 noch zu den im Durchschnitt wohlhabendsten Ostbürgern. Haben sie nicht nach dem Landesvater Stolpe den jungen, beweglichen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck bekommen? Dazu den General a.D. Jörg Schönbohm von der CDU, den selbstbewussten Law-and-Order-Mann, beide seit 1999 in einer Koalition?
Der S‑Bahnzug Richtung Potsdam, vorbei am Wannsee, ist am Samstag voller Ausflügler. Sie stehen gedrängt, fast ist es wie in einem alten realistischen Berlin-Film: die Leute erhitzt, Kinder rutschen müde von den Schößen ihrer Mütter, Jacken werden ausgezogen, Männer in Unterhemden, die Fenster fangen an zu beschlagen. Plötzlich die Ansage, der Zug müsse auf einer Zwischenstation gewechselt werden. Aus den Waggons wälzt sich eine Menschenlawine.
In Potsdam zieht sich innerhalb von Minuten der Himmel zu und ein Wolkenbruch rauscht nieder. Ich erreiche die Schirme eines Edelrestaurants. Das Wasser spritzt in dünnen Fontänen vom Pflaster hoch, die Gäste werden nach innen evakuiert. Ein Kellner mit Zopf, der kaum Deutsch spricht, bringt einen Espresso und steht still da, als genieße er die unverhoffte Ruhe. Auf einmal wirkt alles einsam wie auf einer Insel, wie in einem Niemandsland, und wenn das geschieht, weiß man, dass man auf einer Reise ist, selbst wenn sie nicht weit weg führt. Und man ist bereit, alles zu registrieren, was um einen geschieht, ohne Vorwissen und Erwartung.
In der Stadt Brandenburg an der Havel startete die SPD mit einem Wahlparteitag. Protestierende sammeln sich vor dem Gebäude. Das hätten die Versammelten gern vermieden. Es irritiert sie auch Schröders Schärfe. Er nimmt sich PDS und CDU als “abartiges Bündnis” gleichzeitig vor und steigert sich bis zu dem Satz: “Wenn man diese neue Volksfront und ihren gnadenlosen Populismus sieht, dann kann einem wirklich übel werden.” Platzeck hingegen schlägt einen mitfühlenden Ton an. Er wirbt um Verständnis für die Hintergründe der Massenproteste: “Da bricht sich ein Gefühl der Zweitklassigkeit Bahn. Das ist der Frust von 14 Jahren!” Von der S‑Bahn aus, die nach Potsdam fährt, sah man schon die ersten Wahlplakate mit dem Platzeck-Porträt: “Einer von uns. Für Sie. Für uns. Für Brandenburg.”
“Einer von uns” — das nimmt die CDU als Fehdehandschuh auf und unterstellt der SPD, sie schüre insgeheim Animositäten gegen ihren Spitzenkandidaten Schönbohm als Wessi. Der hat sich vor einem halben Jahr selbst schon lauthals als kommenden Ministerpräsidenten angekündigt. Da sahen die Umfrage-Ergebnisse für ihn günstiger aus. Die CDU präsentiert sich auf Plakatgroßflächen mit niedlichen Babys: “Made in Brandenburg”. Schönbohm poltert: Wir kämpfen für Brandenburg, die SPD aber nur um den Machterhalt für Platzeck. Schon sinkt tendenziell das Niveau.
Beim Volksfest, mit dem die PDS ihren Wahlkampf eröffnet, haben sich die Besucher nach dem Wolkenbruch zurück auf den nun nassen Rasen begeben, der Himmel ist schon wieder blau, gerade wird das Hauptwahlplakat in Großformat enthüllt. Die Spitzenkandidatin Dagmar Enkelmann lacht darauf, sie zeigt ihre weißen Zähne und ihr rosa Zahnfleisch. Das Motto: “Als Mutter von drei Kindern weiß ich, worauf es ankommt: gerecht muss es zugehen im Leben.” Sie ist 47, promovierte Historikerin, sie steht im rot-schwarzen Kleid auch selbst vor der Plakatwand, blond, schlank, einst, als es im Bundestag noch eine PDS-Fraktion gab, peinlicher Weise, wie sie fand, zur Miss Bundestag auserkoren. Der Moderator sagt: Wir hoffen auf ihre Tatkraft, Intelligenz — und mit verlegenem Lachen: auch auf ihre Attraktivität. Neben ihr Lothar Bisky, dem ihre Unbefangenheit und gute Laune offenbar wohltun und es ihm leicht machen, mit ihr im Wechsel die politischen Statements abzugeben. Bisky zeigt sich erleichtert darüber, dass die PDS ihren Abstieg gestoppt habe. Mehr sei es noch nicht, aber immerhin. Beide verwahren sich in einer Art Überdruss gegen den Populismus-Vorwurf, der plötzlich unisono von überall tönt. Sie waren nun mal von Anfang an gegen Hartz IV. Andere, die darüber mit abgestimmt hätten, würden sich jetzt plötzlich in ihrer Kritik gegenseitig übertreffen. Eine sehr unangenehme Vorstellung sei es, auf einer Demo plötzlich auf Schönbohm zu treffen. Immer wieder betonen beide: Die PDS habe präzise Vorschläge für Brandenburg vorgelegt, und sie bitten die Medien und Parteien fast darum, sich mit diesen Konzepten auseinandersetzen. “Wir haben einen anderen Politik-Stil”, sagt Bisky, “wir reden über Inhalte.”
Und dann erzählt er nach Aufforderung noch eine frische Anekdote: Von Jörg Schönbohm in Gestalt des CDU-Vorsitzenden Brandenburgs bekam er einen Brief: die SED habe doch Milliarden versteckt, die möge er jetzt den Menschen in der Not zur Verfügung stellen. Dieses Schreiben hat er dem Innenminister des Landes, Jörg Schönbohm, weitergereicht, mit dem Hinweis, da wisse vielleicht einer etwas über die seit 15 Jahren beschworenen und gesuchten Gelder.
Es hat gute Gründe, dass Platzeck den Wahlkampf vorsichtig angeht, denn — wie alle, die jetzt über Brandenburg, über den Osten insgesamt, reden — weiß er: irgendetwas hat sich verändert, die Lage ist unberechenbar. “Hier in Ost-Deutschland droht etwas ins Rutschen zu geraten”, so sagt er es. Das Volk jetzt nicht reizen! Aber zur PDS fällt ihm nur ein: Falls sie eine Mehrheit bekomme, stehe er als Ministerpräsident nicht zur Verfügung. Wieder dieser öde Reflex, diese ererbte und immer weiter gereichte politische Angsthaltung in Deutschland, die vor allem die SPD verleitet, sich von Linkeren als sie selbst schon weit im Vorfeld zu distanzieren. Diese ewige Selbstschwächung und Ächtung anderer Auffassungen, als gäbe es dafür irgendwoher ein Lob. Und so bangen manche PDS-Anhänger schon: Wir dürfen keine Mehrheit werden, sondern müssen unterhalb der SPD liegen, sonst geht sie wieder eine Koalition mit der ungeliebten CDU ein.
In der schon schräg stehenden Sonne macht auf dem Fest der PDS die Gruppe Apparatschik ihren Soundcheck. Sie treten einzeln ans Mikro, singen eines der russischen Lieder ihres Programms a capella, bis der Lautsprecher stimmt, dann brechen sie ab, und eine nächste Stimme oder die Balalajka, das Akkordeon, die Geige, die E‑Gitarre, das Schlagzeug lassen sich hören, nicht halbherzig, sondern mit ganzem Einsatz, eine wunderbare Parade der Instrumente und Stimmen, bis ihr gemeinsamer Auftritt beginnt mit dem vollen Ton und den Rhythmen, mit denen sie diese tolle Folklore verwandeln.
Ob sich wohl irgendwo etwas über die Stimmung in Brandenburg mitteilt oder verrät? Wo könnte ich sie wahrnehmen? In Senftenberg, wo die Braunkohle-Kumpel ohne Arbeit geblieben sind, weil in der Gegend die K
ohle ganz abgebaut und keine andere Arbeit in Aussicht ist? Infrage kämen die Industriestandorte, die großen DDR-Projekte wie Eisenhüttenstadt und Schwedt, die noch produktiv sind. Wären die Eindrücke authentischer in den Orten entlang der Oder, der langen Grenze zu Polen? Brandenburg ist Grenzland zwischen Berlin und Polen, und beide Richtungen spielen eine Rolle im Selbstbild.
Einfach eine Richtung wählen. Und keinen Moment vergessen, dass die Eindrücke vom Tag, von den Konstellationen des Augenblicks, vom eigenen Vorwissen abhängen werden. Von Berlin aus stracks nach Osten, durch den grünen Spreewald nach Cottbus. Seltsam, hier gibt nichts irgendeine politische Stimmung preis. Touristen lassen sich in Kähnen durch die flachen Seitenarme der Spree staksen. Sind genug Gäste da? Andrang herrscht nicht. Auch keine Euphorie, eher eine verhaltene Stimmung. Nichts summt, nur die Grillen in der Sonne auf den Feldern und Büschen, darüber ein Himmel mit plastischen weißen Wolken. Zweisprachige Orts- und Straßenschilder tauchen auf, deutsch und sorbisch, manchmal auf schmalen Straßen zu schnelle, gereizte Autofahrer. Wahlplakate der DVU: Deutsches Geld für deutsche Aufgaben. Oder: Kriminelle Ausländer raus. Oder: Schnauze voll. Warum nicht mal was anderes? Dazu ein lächelndes Frauengesicht.
Cottbus bietet sich ohne Menschen dar. Fast ist es unheimlich. Wo sind sie? Liegt es am Sonntag? Die Cafés und Lokale sind zwar offen, aber leer. Bei einem großen Italiener bleibe ich der einzige Gast. Die zierliche Kellnerin kommt aus Bulgarien, sie studiert in Cottbus Ökonomie und Informatik in einem komplett englischen Studienzweig, erzählt sie. Wo die Leute sind? Sie überlegt. Cottbus sei immer so leer im Sommer, entschuldigt sie sich für die Stadt, sicher fahren alle weg in den Ferien. Von der Wahlkundgebung der CDU am Vortag mit Merkel und Schönbohm, zu der sich 200 Anhänger sammelten, hat sie nichts mitbekommen.
So ziehe ich denn eine Telefonnummer hervor, die mir vor dem Aufbruch jemand durchgegeben hat: die eines jungen Malers aus Lakoma, aus einem der Orte, die sich seit langem wehren, der Braunkohle geopfert und abgebaggert zu werden. Dahin wollte ich schließlich schon länger, seit ich in dem nicht weit entfernt liegenden Dorf Hornow war, das ein ähnliches Schicksal hat. Auch wenn diese Abwehrkämpfe am Ende oft vergeblich sind und diese Vergeblichkeit manche Beobachter schreckt, scheinen die Beteiligten doch zu gewinnen. Vielleicht, weil sie anders über Werte nachdenken müssen und über die Bedeutung eines gewachsenen Ortes. Sie werden zu Erhaltern und Bewahrern, zugleich aber entwerfen sie ständig Konzepte, wie sie ein sinnvolles, kreatives Leben im Dorf einrichten könnten. Sie lernen neue Menschen kennen, die sie unterstützen, aber erfahren auch die Brachialgewalt der Industrie und den Wankelmut von Politikern. Auf einer Seite des Lakoma-Gebiets sind schon die Pumpstationen und Riesenrohre zur 70 Meter tief reichenden Entwässerung der Gegend installiert. Diese Leute erleben Enttäuschungen, verlieren Illusionen, aber sind doch gestärkt. Schwer abzuschätzen.
Und da ist sie plötzlich, die andere Welt, die oft nur einen Schritt weit entfernt liegt. Drei Störche im Nest zeigen ihren Beginn an. Die Straße wird zur holprigen Sandpiste. Fundamente abgerissener Häuser am Rand. Lakoma ist ein ideales Naherholungsgebiet für Cottbus. Einige Leute kommen mit Fahrrädern vorbei. Andreas Walter hat sich mit 18 hier her begeben, vor zwölf Jahren, es war das große Erlebnis von Freiheit, sagt er. Es lebten noch mehr Menschen hier, dann wurde es stiller, ich nehme an, oft war es sehr einsam. Er wurde Maler, war Stadtzeichner von Cottbus. Die Leute dort in der Stadt, sagt er, hätten Lakoma längst abgeschrieben. Für ein Leben mit anderen Prioritäten würden sich nur wenige interessieren.
1991 kam noch einmal die Hoffnung auf, die Gegend um Lakoma trotz der Braunkohle, die darunter liegt, zu erhalten, und zwar aus Gründen des Naturschutzes. An den 24 Teichen haben sich in dieser intakten Landschaft mit ihren kleinräumigen Strukturen so viele Tiere und Pflanzen, die auf der “roten Liste” der bedrohten Arten stehen, wie nirgends sonst erhalten. René Schuster kommt dazu, Sorbe, der Naturschutz und Zoologie studiert hat, Vorsitzender des Vereins Lakoma. Wenn die beiden sprechen, kann es keinen Zweifel mehr geben, dass sie alle guten Gründe für den Erhalt des Ortes und seiner Teiche auf ihrer Seite haben. Der Verzicht auf dieses Quantum Braunkohle würde nicht die Stromversorgung der Gegend gefährden. Noch dazu wird hier sowieso nach wenigen Metern Schluss mit der Förderung sein. Die Stadt Cottbus beginnt. Es geht hier inzwischen um etwas Irrationales: um Prestige, um das Sich-Durchsetzen.
Erfahrungen wie in Lakoma gab es seit Jahrzehnten an zahlreichen Orten in der Bundesrepublik. Seit 1990 gehören sie vielfach zu den Ost-Biographien, sie sind ein Bestandteil der Stimmungsänderung, die registriert wird. Eigentlich gehört es zu den scheußlichen Lehren der vergangenen 15 Jahre, dass Massenstimmungen grenzenlos manipulierbar sind. Sollte jetzt eine Grenze erreicht sein? Oder ist es nur das Angstbild der einen und das Wunschdenken der anderen? Vielleicht richtet sich im Moment die Befindlichkeit Millionen Einzelner — wie Eisenspäne unter dem Magnetstab — zu einer politischen Haltung aus? So dass sie zählt, bei Wahlen und auch schon vorher, ähnlich wie die kleine Münze der vielen Menschen, die ja in der Summe offenbar reicht, den Staat zu sanieren, denn sonst würde er wohl nicht so danach greifen.