Von den Mühen, in Ostdeutschland den Rechtsextremismus zu bekämpfen
(FR, Heinz Lynen von Berg, Kerstin Palloks und Johannes Vossen) Sozialwissenschaftler vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung haben in einer Studie im Auftrag der Bundesregierung
analysiert, wie staatliche Programme gegen Rechtsextremismus wirken.
Untersucht haben sie das Bundesprogramm “Civitas”, das rechte Unkultur in
Ostdeutschland bekämpfen soll.
(…) Dieser Bericht enthält die Ergebnisse der im Laufe des Jahres 2003
durchgeführten quantitativen und der qualitativen Erhebungen des
Forschungsteams zur wissenschaftlichen Begleitung des Civitas-Programms. (.
. .)
Der zivilgesellschaftliche Rahmen
(…) Das Civitas-Programm möchte dazu beitragen, “zivilgesellschaftliche
Strukturen im Gemeinwesen in den neuen Bundesländern aufzubauen, zu stärken,
zu vernetzen und modellhaft weiterzuentwickeln” (Civitas-Leitlinien 2003).
Dies ist umso wichtiger, weil von stützenden Strukturen für eine
Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern noch nicht flächendeckend
ausgegangen werden kann. Zum Beispiel fehlen weiterhin bestimmte staatliche
Regelstrukturen (etwa ein flächendeckendes Netz von Ausländerbeauftragten)
bzw. werden zurzeit wieder reduziert (z. B. im Bereich der Jugendarbeit).
Zivilgesellschaft benötigt aber nicht nur stützende Strukturen jenseits von
Markt und Staat. Wesentlich ist, ob es gelingt, zentrale Postulate einer
politischen Kultur gesellschaftlich zu verankern. So ist fraglich, ob die
Marktmechanismen einer rabiaten Konkurrenz und ihre Auswirkung auf die
sozialen Lebensumstände noch hinreichend Anerkennungspotenziale
bereithalten, damit Menschen nicht andere abwerten, gewissermaßen
Fremdenfeindlichkeit ein Mittel zur Selbstaufwertung wird.
Es ist auch offen, ob staatliche Institutionen hinreichend in der Lage sind,
die Opfer solcher Attitüden oder Verhaltensweisen gewissermaßen im
gesellschaftlichen Alltag “vor Ort” zu schützen und Hilfen zur Integration
bereitzustellen. Es geht um nichts weniger als die Schaffung einer
“demokratischen Atmosphäre”, also einer “politischen Kultur”, in der
Selbstverständlichkeiten und Normalitätsstandards vorherrschen, die
wenigstens zwei Kernelemente unserer Verfassung sichern: die
Gleichwertigkeit von Menschen und ihre physische und psychische
Unversehrtheit.
Es wäre verkürzend, wenn ein “zivilgesellschaftliches” Programm nur gegen
die Gleichwertigkeit und Unversehrtheit verletzende oder gar zerstörende
Fremdenfeindlichkeit und entsprechende Varianten von Rechtsextremismus
ausgerichtet wäre; es muss sich zugleich für den Aufbau von
Normalitätsstandards zivilen Zusammenlebens in einer “demokratischen
Atmosphäre” einsetzen.
Nicht nur stützende Strukturen und eine demokratische politische Kultur sind
Voraussetzungen für eine funktionierende Zivilgesellschaft. Mindestens
ebenso wichtig sind grundlegende Wertorientierungen zur Regulierung von
(gesellschaftlichen) Konflikten und Angelegenheiten, die unverzichtbare
Vorbedingungen für die Verankerung einer Zivilgesellschaft darstellen.
Konflikte sollten sowohl in größeren Kollektiven als auch zwischen Personen
gewaltfrei ausgetragen werden.
Verhandlungsprozesse und deliberative Formen der Behandlung von Themen und
Interessen mit dem Ziel vernünftiger und sachorientierter Lösungen wären
dabei ein anzustrebender Idealzustand. Dieser setzt einerseits ein hohes Maß
an Selbstreflexivität und gegenseitigem Respekt voraus und gründet sich
andererseits auf Lernprozesse, die solche Orientierungen freisetzen bzw.
notwendig machen.
Des weiteren sind hohe kommunikative Kompetenzen bzw. deren Entwicklung
konstitutiv für zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse. (…)
Die Interventionspraxis gegen fremdenfeindliche Mentalitäten und
rechtsextreme Aktivitäten ist immer im Kontext zweier Entwicklungslinien zu
betrachten. Diese Interventionspraxis wird umso schwieriger, je komplexer
und widersprüchlicher die rechtsextremen Entwicklungen einerseits und die
gesellschaftlichen Reaktionen andererseits ausfallen. Es sind nicht nur die
manifesten rechtsextremen Aktivitäten, die fremdenfeindlichen Attitüden und
demokratiefeindlichen Haltungen, sondern auch das Problem eines sich
abschirmenden “Normalitätspanzers” zu beachten.
Damit ist das Selbstbild einer “gesunden Normalität” gemeint, die sich gegen
alles Andersartige oder Fremde abschirmen will. Ein derartiger
“Normalitätspanzer” kann auch dazu führen, dass fremdenfeindliche Attitüden
und rechtsextreme Gewalt sich um so eher ausbreiten können, je
unspektakulärer dies geschieht, zumal wenn dies von der Öffentlichkeit
weitgehend lakonisch ignoriert wird. Insofern muss von einer beunruhigenden
Normalität gesprochen werden, die den Hintergrund der Interventionspraxis
der Civitas-Projekte bildet. (…)
Die Entstehung einer Zivilgesellschaft kann nicht erzwungen werden, auch ist
realistisch nicht zu erwarten, dass ein derartiges Programm im Laufe weniger
Jahre strukturelle Defizite beheben oder politische Einstellungen
flächendeckend verändern kann. Das Problem wird sich auch nicht von selbst
erledigen, sondern bedarf einer kontinuierlichen Aufmerksamkeit und
Bearbeitung. Ralf Dahrendorf hat mit Blick auf die Transformation der
realsozialistischen Gesellschaften Ost€pas in Demokratien festgestellt,
der Aufbau einer Zivilgesellschaft dauere 60 Jahre. Von daher ist vor zu
hohen Erwartungen und einer Überforderung, im Übrigen auch einer
Selbstüberforderung der Projekte, zu warnen.
Das Civitas-Programm ist das zurzeit wohl ambitionierteste Großexperiment
zur Förderung der Zivilgesellschaft. Daher lohnt ein Blick auf das
Erreichte, und der vorliegende Bericht gibt einen empirisch gesättigten,
detaillierten Einblick in die Projektpraxis sowie die Chancen und Risiken
dieses Vorhabens. (…)
Überblick über das Gesamtergebnis
Bürgerschaftliches Engagement setzt zivilgesellschaftliche Strukturen und
funktionierende staatliche Institutionen voraus. Darum ist es eine wichtige
Bedingung für die Förderung einer Zivilgesellschaft, dass deutungsmächtige
und einflussreiche Akteursgruppen und Institutionen wie Kirchen, Verbände,
Vereinigungen, kulturelle Einrichtungen, Bildungsträger sowie Vereine,
selbstorganisierte Zusammenschlüsse und Interessengruppen die
institutionellen Voraussetzungen und Räume für bürgerschaftliches Engagement
schaffen. Die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Potenziale ist aber vor
dem Hintergrund kulminierender Problemlagen zu sehen:
. Auf Grund gravierender Desintegrationserscheinungen (hohe
Arbeitslosigkeit, Abwanderung etc.) und einer weit verbreiteten Distanz zu
den Institutionen des politischen Systems sind diese Voraussetzungen in den
neuen Bundesländern nur bedingt gegeben.
. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus wird von Teilen der
Bevölkerung und einem Teil der zivilgesellschaftlichen Institutionen als
“Luxus” betrachtet, obwohl insbesondere in den ländlichen Gebieten die
fremdenfeindlichen Mentalitäten ein relevanter Bestandteil der politischen
Kultur sind und Eingang in die Normalitätsvorstellungen von erheblichen
Bevölkerungsanteilen gefunden haben.
Ansätze und Zielgruppen
Auf diese komplexe Gemengelage muss das Civitas-Programm mit seiner
Förderstrategie reagieren. Den Anspruch, Zivilgesellschaft in ihrer Breite
zu entwickeln, kann das Programm nur begrenzt verwirklichen. Dafür lassen
sich folgende Gründe feststellen:
. Die vielschichtigen und gravierenden strukturellen Problemlagen setzen dem
hohen Anspruc
h, auf Dauer gestellte Formen zivilgesellschaftlicher
Auseinandersetzung entwickeln zu wollen, deutliche Grenzen.
. Da ein Schwerpunkt in der Förderung von Projekten im Jugend- und
Initiativenbereich liegt, werden die notwendigen, einflussreichen und
deutungsmächtigen Gruppen und Institutionen noch nicht zur Genüge erreicht,
so dass wesentliche Impulse zur Verbreiterung und Festigung der
Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern noch nicht ausreichend
einbezogen sind. (…)
Die Arbeit der Strukturprojekte
In der Projektpraxis konnten über die drei Förderschwerpunkte (Mobile
Beratungsteams, Opferberatungsstellen und Netzwerkstellen) hinweg zwei
grundlegende Ansätze herausgearbeitet werden.
a) Offener moderierender Ansatz: Dieser Ansatz ist am ehesten geeignet, die
Ressourcen und Kompetenzen für nachhaltiges zivilgesellschaftliches
Engagement effektiv nutzbar zu machen. Die zu diesem Ansatz gehörenden
Voraussetzungen sind:
. ein selbstreflexives Rollenverständnis,
. Empathie- und Distanzierungsfähigkeit,
. die Fähigkeit, mit einer angemessenen Gesprächskultur auf die Anliegen der
Akteure vor Ort einzugehen,
. die Fähigkeit, mit Differenzen und anderen Auffassungen integrativ
umzugehen,
. die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu moderieren. In diesem Feld sind
noch intensive Fortbildungsanstrengungen anzustreben, um die Kompetenzen der
Mitarbeiter/innen zu verbessern. Hier wäre besonders auf die Ausbildung von
Moderations‑, Mediations- und Beratungstechniken zu achten.
b) Ansatz der Gegnerschaft zum Rechtsextremismus: Konfrontative
Vorgehensweisen können in Einzelfällen sinnvoll sein, sind jedoch generell
weniger geeignet, ein breites Zielgruppenspektrum zu erreichen. Dafür lassen
sich folgende Gründe aufzeigen:
. Die Verdrängung des Rechtsextremismus hat nicht automatisch eine
Ausweitung und Stärkung der Zivilgesellschaft zur Folge.
. Ansätze, die sich thematisch auf die Gegnerschaft zum Rechtsextremismus
beschränken, können durch Solidarisierung zwar bereits engagierte
Akteursgruppen stärken, halten jedoch für den weiteren Kreis potenzieller
Akteure kaum Mobilisierungsreserven bereit.
. Moralkommunikation und politische Grundsatzhaltungen erschweren die
Ansprache und Integration reservierter Akteursgruppen und können sogar
“abschreckend” wirken.
Moderates Vorgehen, konstruktive, auf verschiedene Zielgruppen
zugeschnittene “Angebote” sowie das Bereitstellen von Ressourcen als
Voraussetzung für Engagement sind von der Anlage her besser geeignet, die
für den Aufbau einer Zivilgesellschaft relevanten Akteursgruppen und
Initiativen zu erreichen. Der offene moderierende Ansatz ist daher als
Modell zur Orientierung für eine Professionalisierung der langfristig
geförderten Strukturprojekte zu betrachten.
Förderpraxis
Um den hoch gesteckten Zielen und vielseitigen Anforderungen gerecht zu
werden, sollte in der Förderpraxis gezielt operativ und gleichzeitig
flexibel vorgegangen werden.
. Die Strukturprojekte benötigen die Planungssicherheit eines mehrjährigen
Projektzyklus als eine wesentliche Voraussetzung, um eine auf
Verlässlichkeit basierende und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Arbeit mit
den Akteuren vor Ort durchführen zu können. (…)
. Durch kontinuierliche fachliche Beratung, Selbstevaluation bzw. formative
Evaluation vor Ort sollten die Umsetzungspraxen der Strukturprojekte
reflexiv begleitet werden, um dadurch die Qualität der Projektarbeit zu
optimieren.
. Von Auftrag und Vorgehen der Strukturprojekte zu unterscheiden ist der
Ansatz von engagierten Initiativen, die als Akteure auch mit konfrontativen
Methoden eine Auseinandersetzung in den Gemeinwesen forcieren können. Darum
wäre die Förderstrategie weiterzuentwickeln, die zwischen fachspezifischer
Bearbeitung und der Förderung von politischem Engagement unterscheidet.
Aufeinander abgestimmte Interventionsnetzwerke, bestehend aus
Strukturprojekten sowie um diese gruppierten Kleinprojekten, können den
gemeinwesenorientierten, generationsübergreifenden Anspruch des Programms
einlösen.
. Gerade um die für die Entwicklung von Zivilgesellschaft wichtigen kleinen
Träger zu stärken, müssen für diese niedrigschwellige Antrags- und
Abrechnungsmodalitäten bestehen bleiben bzw. geschaffen werden. (…)
. Weiterhin ermöglicht eine flexible und an Einzelfällen orientierte
Förderungspraxis, das Reagieren auf lokal notwendige Interventionsbedarfe
auch mit Formaten und Laufzeiten, die in der breiten Förderung des
Civitas-Programms nicht mehr favorisiert werden (z. B. interkulturelle
Ansätze in Grenzgebieten zu Ost€pa; Event-Projekte, wenn Partizipation
verschiedener Akteursgruppen anvisiert wird).
Resümierend lässt sich festhalten, dass es durch die geförderten
Strukturprojekte gelungen ist, verschiedene Ansätze zu Formen einer
demokratischen Auseinandersetzung mit dem komplexen Problemzusammenhang von
fremdenfeindlichen Mentalitäten und rechtsextremen Erscheinungen zu
entwickeln und zu erproben. Auch wenn die “Erträge” von unterschiedlicher
Qualität sind, entsprechen sie durch ihren Innovationscharakter dem
formulierten Modellanspruch des Programms. Darüber hinaus ist es einem Teil
der Strukturprojekte bereits gelungen, sich als fachkompetente
Ansprechpartner und wichtige Multiplikatoren in ihren jeweiligen regionalen
bzw. lokalen Kontexten zu etablieren. Vor dem Hintergrund der schwierigen
Rahmenbedingungen sollte dies als weiterer beachtenswerter Erfolg von
Programm und Projektarbeit (…) gewürdigt werden.
Die Programme
Nach Ausrufen des “Aufstands der Anständigen” 2000 hatte die Bundes-
regierung 2001 mehrere Programme aufgelegt, um den Kampf gegen den
Rechtsextremismus zu unterstützen. “Xenos” unterstützt Projekte mit Bezug
zur Arbeitswelt, “Entimon” gibt vielen kleinen Initiativen Geld und hat
einen Schwerpunkt im interreligiösen Dialog. Das dritte Programm, “Civitas”,
zielt auf Ostdeutschland. Dort werden vor allem Opferberatungsstellen, Netz-
werkstellen und Mobile Beratungsteams gefördert. Von Anfang an wurden die
Programme auch wissenschaftlich begleitet, um die Erfolge abschätzen und
Fehlentwicklungen begegnen zu können
Die Autoren
Dr. Heinz Lynen von Berg ist seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der
Universität Bielefeld und dort Projektleiter der Begleitforschung des
Civitas-Programms. Von 1999 bis 2002 war er Geschäftsführer von
“Miteinander-Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt
e.V.”. Kerstin Palloks ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am IKG.
Nach ihrem Studium der Sozial- und Erziehungswissenschaften an der
Humboldt-Universität zu Berlin arbeitete sie in Forschungsprojekten zur
Biografieforschung, zur Erforschung von Armut bei Kindern und Jugendlichen
und zur Evaluation von Projekten zur Gewaltprävention an Schulen mit.
Johannes Vossen arbeitet am Berliner Institut für Geschichte der Medizin für
das DFG-Projekt “Wissenschaftlicher Anspruch und staatliches Interesse. Die
Hochschulmedizin an der Charité im Wechsel politischer Systeme 1933 und
1945”. Bis 2002 war er Geschäftsführer des IKG, 2002 bis November 2003
Projektkoordinator der Civitas-Forschung. Der komplette Bericht, der hier in
von der FR ausgewählten Auszügen dokumentiert wird, ist im Internet zu
finden unter: www.uni-bielefeld.de/ikg.