Brandenburg vor der Wahl — Das schwierige Deuten von Stimmungen
(Freitag, 20.8., Marina Achenbach) Alle Tische einschließlich des Küchentischs sind mit neuesten Artikeln über Brandenburg bedeckt. Die demoskopische Befragung, die so viele Kommentare, auch Gehässigkeiten auslöste, ist erst fünf Tage alt: sie ergab, dass die Brandenburger die PDS zur stärksten Partei machen würden, wenn an diesem August-Sonntag Wahlen wären. Sie werden in gut vier Wochen, am 19. September, stattfinden. 29 Prozent für die PDS, 28 für die SPD und 26 für die CDU, sagt die Umfrage. Diese drei Parteien eröffnen gerade jeweils ihren Wahlkampf. Mitte der neunziger Jahre begann im Land ein ökonomischer Abstieg. Die Zuwachsraten sind inzwischen die kleinsten im Osten. Dabei gehörten die Brandenburger 1991 noch zu den im Durchschnitt wohlhabendsten Ostbürgern. Haben sie nicht nach dem Landesvater Stolpe den jungen, beweglichen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck bekommen? Dazu den General a.D. Jörg Schönbohm von der CDU, den selbstbewussten Law-and-Order-Mann, beide seit 1999 in einer Koalition?
Der S‑Bahnzug Richtung Potsdam, vorbei am Wannsee, ist am Samstag voller Ausflügler. Sie stehen gedrängt, fast ist es wie in einem alten realistischen Berlin-Film: die Leute erhitzt, Kinder rutschen müde von den Schößen ihrer Mütter, Jacken werden ausgezogen, Männer in Unterhemden, die Fenster fangen an zu beschlagen. Plötzlich die Ansage, der Zug müsse auf einer Zwischenstation gewechselt werden. Aus den Waggons wälzt sich eine Menschenlawine.
In Potsdam zieht sich innerhalb von Minuten der Himmel zu und ein Wolkenbruch rauscht nieder. Ich erreiche die Schirme eines Edelrestaurants. Das Wasser spritzt in dünnen Fontänen vom Pflaster hoch, die Gäste werden nach innen evakuiert. Ein Kellner mit Zopf, der kaum Deutsch spricht, bringt einen Espresso und steht still da, als genieße er die unverhoffte Ruhe. Auf einmal wirkt alles einsam wie auf einer Insel, wie in einem Niemandsland, und wenn das geschieht, weiß man, dass man auf einer Reise ist, selbst wenn sie nicht weit weg führt. Und man ist bereit, alles zu registrieren, was um einen geschieht, ohne Vorwissen und Erwartung.
In der Stadt Brandenburg an der Havel startete die SPD mit einem Wahlparteitag. Protestierende sammeln sich vor dem Gebäude. Das hätten die Versammelten gern vermieden. Es irritiert sie auch Schröders Schärfe. Er nimmt sich PDS und CDU als “abartiges Bündnis” gleichzeitig vor und steigert sich bis zu dem Satz: “Wenn man diese neue Volksfront und ihren gnadenlosen Populismus sieht, dann kann einem wirklich übel werden.” Platzeck hingegen schlägt einen mitfühlenden Ton an. Er wirbt um Verständnis für die Hintergründe der Massenproteste: “Da bricht sich ein Gefühl der Zweitklassigkeit Bahn. Das ist der Frust von 14 Jahren!” Von der S‑Bahn aus, die nach Potsdam fährt, sah man schon die ersten Wahlplakate mit dem Platzeck-Porträt: “Einer von uns. Für Sie. Für uns. Für Brandenburg.”
“Einer von uns” — das nimmt die CDU als Fehdehandschuh auf und unterstellt der SPD, sie schüre insgeheim Animositäten gegen ihren Spitzenkandidaten Schönbohm als Wessi. Der hat sich vor einem halben Jahr selbst schon lauthals als kommenden Ministerpräsidenten angekündigt. Da sahen die Umfrage-Ergebnisse für ihn günstiger aus. Die CDU präsentiert sich auf Plakatgroßflächen mit niedlichen Babys: “Made in Brandenburg”. Schönbohm poltert: Wir kämpfen für Brandenburg, die SPD aber nur um den Machterhalt für Platzeck. Schon sinkt tendenziell das Niveau.
Beim Volksfest, mit dem die PDS ihren Wahlkampf eröffnet, haben sich die Besucher nach dem Wolkenbruch zurück auf den nun nassen Rasen begeben, der Himmel ist schon wieder blau, gerade wird das Hauptwahlplakat in Großformat enthüllt. Die Spitzenkandidatin Dagmar Enkelmann lacht darauf, sie zeigt ihre weißen Zähne und ihr rosa Zahnfleisch. Das Motto: “Als Mutter von drei Kindern weiß ich, worauf es ankommt: gerecht muss es zugehen im Leben.” Sie ist 47, promovierte Historikerin, sie steht im rot-schwarzen Kleid auch selbst vor der Plakatwand, blond, schlank, einst, als es im Bundestag noch eine PDS-Fraktion gab, peinlicher Weise, wie sie fand, zur Miss Bundestag auserkoren. Der Moderator sagt: Wir hoffen auf ihre Tatkraft, Intelligenz — und mit verlegenem Lachen: auch auf ihre Attraktivität. Neben ihr Lothar Bisky, dem ihre Unbefangenheit und gute Laune offenbar wohltun und es ihm leicht machen, mit ihr im Wechsel die politischen Statements abzugeben. Bisky zeigt sich erleichtert darüber, dass die PDS ihren Abstieg gestoppt habe. Mehr sei es noch nicht, aber immerhin. Beide verwahren sich in einer Art Überdruss gegen den Populismus-Vorwurf, der plötzlich unisono von überall tönt. Sie waren nun mal von Anfang an gegen Hartz IV. Andere, die darüber mit abgestimmt hätten, würden sich jetzt plötzlich in ihrer Kritik gegenseitig übertreffen. Eine sehr unangenehme Vorstellung sei es, auf einer Demo plötzlich auf Schönbohm zu treffen. Immer wieder betonen beide: Die PDS habe präzise Vorschläge für Brandenburg vorgelegt, und sie bitten die Medien und Parteien fast darum, sich mit diesen Konzepten auseinandersetzen. “Wir haben einen anderen Politik-Stil”, sagt Bisky, “wir reden über Inhalte.”
Und dann erzählt er nach Aufforderung noch eine frische Anekdote: Von Jörg Schönbohm in Gestalt des CDU-Vorsitzenden Brandenburgs bekam er einen Brief: die SED habe doch Milliarden versteckt, die möge er jetzt den Menschen in der Not zur Verfügung stellen. Dieses Schreiben hat er dem Innenminister des Landes, Jörg Schönbohm, weitergereicht, mit dem Hinweis, da wisse vielleicht einer etwas über die seit 15 Jahren beschworenen und gesuchten Gelder.
Es hat gute Gründe, dass Platzeck den Wahlkampf vorsichtig angeht, denn — wie alle, die jetzt über Brandenburg, über den Osten insgesamt, reden — weiß er: irgendetwas hat sich verändert, die Lage ist unberechenbar. “Hier in Ost-Deutschland droht etwas ins Rutschen zu geraten”, so sagt er es. Das Volk jetzt nicht reizen! Aber zur PDS fällt ihm nur ein: Falls sie eine Mehrheit bekomme, stehe er als Ministerpräsident nicht zur Verfügung. Wieder dieser öde Reflex, diese ererbte und immer weiter gereichte politische Angsthaltung in Deutschland, die vor allem die SPD verleitet, sich von Linkeren als sie selbst schon weit im Vorfeld zu distanzieren. Diese ewige Selbstschwächung und Ächtung anderer Auffassungen, als gäbe es dafür irgendwoher ein Lob. Und so bangen manche PDS-Anhänger schon: Wir dürfen keine Mehrheit werden, sondern müssen unterhalb der SPD liegen, sonst geht sie wieder eine Koalition mit der ungeliebten CDU ein.
In der schon schräg stehenden Sonne macht auf dem Fest der PDS die Gruppe Apparatschik ihren Soundcheck. Sie treten einzeln ans Mikro, singen eines der russischen Lieder ihres Programms a capella, bis der Lautsprecher stimmt, dann brechen sie ab, und eine nächste Stimme oder die Balalajka, das Akkordeon, die Geige, die E‑Gitarre, das Schlagzeug lassen sich hören, nicht halbherzig, sondern mit ganzem Einsatz, eine wunderbare Parade der Instrumente und Stimmen, bis ihr gemeinsamer Auftritt beginnt mit dem vollen Ton und den Rhythmen, mit denen sie diese tolle Folklore verwandeln.
Ob sich wohl irgendwo etwas über die Stimmung in Brandenburg mitteilt oder verrät? Wo könnte ich sie wahrnehmen? In Senftenberg, wo die Braunkohle-Kumpel ohne Arbeit geblieben sind, weil in der Gegend die K
ohle ganz abgebaut und keine andere Arbeit in Aussicht ist? Infrage kämen die Industriestandorte, die großen DDR-Projekte wie Eisenhüttenstadt und Schwedt, die noch produktiv sind. Wären die Eindrücke authentischer in den Orten entlang der Oder, der langen Grenze zu Polen? Brandenburg ist Grenzland zwischen Berlin und Polen, und beide Richtungen spielen eine Rolle im Selbstbild.
Einfach eine Richtung wählen. Und keinen Moment vergessen, dass die Eindrücke vom Tag, von den Konstellationen des Augenblicks, vom eigenen Vorwissen abhängen werden. Von Berlin aus stracks nach Osten, durch den grünen Spreewald nach Cottbus. Seltsam, hier gibt nichts irgendeine politische Stimmung preis. Touristen lassen sich in Kähnen durch die flachen Seitenarme der Spree staksen. Sind genug Gäste da? Andrang herrscht nicht. Auch keine Euphorie, eher eine verhaltene Stimmung. Nichts summt, nur die Grillen in der Sonne auf den Feldern und Büschen, darüber ein Himmel mit plastischen weißen Wolken. Zweisprachige Orts- und Straßenschilder tauchen auf, deutsch und sorbisch, manchmal auf schmalen Straßen zu schnelle, gereizte Autofahrer. Wahlplakate der DVU: Deutsches Geld für deutsche Aufgaben. Oder: Kriminelle Ausländer raus. Oder: Schnauze voll. Warum nicht mal was anderes? Dazu ein lächelndes Frauengesicht.
Cottbus bietet sich ohne Menschen dar. Fast ist es unheimlich. Wo sind sie? Liegt es am Sonntag? Die Cafés und Lokale sind zwar offen, aber leer. Bei einem großen Italiener bleibe ich der einzige Gast. Die zierliche Kellnerin kommt aus Bulgarien, sie studiert in Cottbus Ökonomie und Informatik in einem komplett englischen Studienzweig, erzählt sie. Wo die Leute sind? Sie überlegt. Cottbus sei immer so leer im Sommer, entschuldigt sie sich für die Stadt, sicher fahren alle weg in den Ferien. Von der Wahlkundgebung der CDU am Vortag mit Merkel und Schönbohm, zu der sich 200 Anhänger sammelten, hat sie nichts mitbekommen.
So ziehe ich denn eine Telefonnummer hervor, die mir vor dem Aufbruch jemand durchgegeben hat: die eines jungen Malers aus Lakoma, aus einem der Orte, die sich seit langem wehren, der Braunkohle geopfert und abgebaggert zu werden. Dahin wollte ich schließlich schon länger, seit ich in dem nicht weit entfernt liegenden Dorf Hornow war, das ein ähnliches Schicksal hat. Auch wenn diese Abwehrkämpfe am Ende oft vergeblich sind und diese Vergeblichkeit manche Beobachter schreckt, scheinen die Beteiligten doch zu gewinnen. Vielleicht, weil sie anders über Werte nachdenken müssen und über die Bedeutung eines gewachsenen Ortes. Sie werden zu Erhaltern und Bewahrern, zugleich aber entwerfen sie ständig Konzepte, wie sie ein sinnvolles, kreatives Leben im Dorf einrichten könnten. Sie lernen neue Menschen kennen, die sie unterstützen, aber erfahren auch die Brachialgewalt der Industrie und den Wankelmut von Politikern. Auf einer Seite des Lakoma-Gebiets sind schon die Pumpstationen und Riesenrohre zur 70 Meter tief reichenden Entwässerung der Gegend installiert. Diese Leute erleben Enttäuschungen, verlieren Illusionen, aber sind doch gestärkt. Schwer abzuschätzen.
Und da ist sie plötzlich, die andere Welt, die oft nur einen Schritt weit entfernt liegt. Drei Störche im Nest zeigen ihren Beginn an. Die Straße wird zur holprigen Sandpiste. Fundamente abgerissener Häuser am Rand. Lakoma ist ein ideales Naherholungsgebiet für Cottbus. Einige Leute kommen mit Fahrrädern vorbei. Andreas Walter hat sich mit 18 hier her begeben, vor zwölf Jahren, es war das große Erlebnis von Freiheit, sagt er. Es lebten noch mehr Menschen hier, dann wurde es stiller, ich nehme an, oft war es sehr einsam. Er wurde Maler, war Stadtzeichner von Cottbus. Die Leute dort in der Stadt, sagt er, hätten Lakoma längst abgeschrieben. Für ein Leben mit anderen Prioritäten würden sich nur wenige interessieren.
1991 kam noch einmal die Hoffnung auf, die Gegend um Lakoma trotz der Braunkohle, die darunter liegt, zu erhalten, und zwar aus Gründen des Naturschutzes. An den 24 Teichen haben sich in dieser intakten Landschaft mit ihren kleinräumigen Strukturen so viele Tiere und Pflanzen, die auf der “roten Liste” der bedrohten Arten stehen, wie nirgends sonst erhalten. René Schuster kommt dazu, Sorbe, der Naturschutz und Zoologie studiert hat, Vorsitzender des Vereins Lakoma. Wenn die beiden sprechen, kann es keinen Zweifel mehr geben, dass sie alle guten Gründe für den Erhalt des Ortes und seiner Teiche auf ihrer Seite haben. Der Verzicht auf dieses Quantum Braunkohle würde nicht die Stromversorgung der Gegend gefährden. Noch dazu wird hier sowieso nach wenigen Metern Schluss mit der Förderung sein. Die Stadt Cottbus beginnt. Es geht hier inzwischen um etwas Irrationales: um Prestige, um das Sich-Durchsetzen.
Erfahrungen wie in Lakoma gab es seit Jahrzehnten an zahlreichen Orten in der Bundesrepublik. Seit 1990 gehören sie vielfach zu den Ost-Biographien, sie sind ein Bestandteil der Stimmungsänderung, die registriert wird. Eigentlich gehört es zu den scheußlichen Lehren der vergangenen 15 Jahre, dass Massenstimmungen grenzenlos manipulierbar sind. Sollte jetzt eine Grenze erreicht sein? Oder ist es nur das Angstbild der einen und das Wunschdenken der anderen? Vielleicht richtet sich im Moment die Befindlichkeit Millionen Einzelner — wie Eisenspäne unter dem Magnetstab — zu einer politischen Haltung aus? So dass sie zählt, bei Wahlen und auch schon vorher, ähnlich wie die kleine Münze der vielen Menschen, die ja in der Summe offenbar reicht, den Staat zu sanieren, denn sonst würde er wohl nicht so danach greifen.