BELZIG Als Jörg Hallex punkt 6 Uhr morgens den Aufgang Lessingstraße 2
betritt, um die Abschiebung der bosnischen Familie Memic zu vollziehen,
kommt er nicht weit. Die letzte Treppe ist bis vor die Wohnungstür mit
Mädchen aus der Gesamtschule Belzig besetzt, eisig schweigend, einige
weinen. Der als beherrscht geltende Chef der kreislichen Ausländerbehörde
gibt sich formal-höflich: “Sie wollen mich nicht durchlassen, gut, dann gehe
ich wieder.” Doch der Rückweg treppab ist bereits durch die Jungs
verschlossen worden.
“Wollen wir jetzt hier sitzen bleiben bis morgen?”, fragt Hallex und erntet
Schweigen. Die Schüler kennen die möglichen Folgen ihres stillen Protests.
Notfalls würden Polizisten sich Zutritt verschaffen und die Familie
zwangsweise abführen. Das wollen sie nicht. Aber sie wollen auch nicht
tatenlos dabeistehen, wenn ihr Mitschüler Mehmed, sein Bruder Elmir und
deren Eltern Fahrudin und Vesna Memic abgeschoben werden, weil die deutsche
Gesetzesbürokratie nichtstaatliche Verfolgung wie sie die Memics zur Flucht
um ihr Leben trieben (die MAZ berichtete), nicht als politisch anerkennt.
Seit vier Uhr morgens harren etwa 80 Abiturienten am Haus aus, leise redend,
rauchend, einander wärmend, unter ihnen sieben Lehrer. Es herrscht eine Art
gefasste Ohnmacht, viele weinen. Die Polizisten mit aschgrauen Mienen fühlen
sich sichtlich unwohl. Auch der RBB-Reporter muss sich straffen, um
Interviews zu führen. Mehmed, der mit seinem Bruder unter den Jugendlichen
ist, nutzt die Kamera, um zu danken. “Ich werde die letzten Tage nie
vergessen und das, was ihr alle für uns getan habt.”
Im Hausflur warnt Hallex die Schüler vor den drohenden Anzeigen, wenn sie
den Platzverweis nicht befolgten. “Er muss als Versammlungsleiter den Kopf
hinhalten”, weist ein Polizist, an die Schüler appellierend, auf Hoa
Fröhlich. Der junge Vietnamese, der heute den Namen seiner Wiesenburger
Adoptivfamilie trägt, lächelt höflich. Was Mehmed heute erlebt, ist vor
einigen Jahren an ihm knapp vorbeigegangen. Weil seine Mitschüler damals für
ihn bis zum Ministerpräsidenten gegangen sind und den Platz vor der
katholischen Kirche blockierten, aus deren Asyl ihn die Ausländerbehörde
herausholen wollte. Dank des Aufhaltens und gelebter Ökumene waren Hoa und
Freund Huy, dessen Familie mittlerweile eine Niederlassungserlaubnis
erhielt, an der Hintertür der Kirche von einem evangelischen Pfarrer
übernommen und vor der Abschiebung bewahrt worden.
Worte wie “undemokratisch” und “inhuman” und bittere Enttäuschung über
Landrat Lothar Koch (SPD), der wider sein Versprechen keine Courage gezeigt
habe, schlagen Hallex entgegen, als das Schweigen bricht und die
Jugendlichen letztmalig zu argumentieren versuchen.
Sie können nicht verhindern, dass die Familie später zum Flughafen Tegel
gebracht wird, doch ohne ihr entschlossenes Einmischen hätte es auch den
kleinen Erfolg nicht gegeben: Mehmed Memic kann nach der Ankunft in Bosnien
einen Antrag stellen, um die Wiedereinreisesperre für abgeschobene
Asylbewerber aufzuheben. “Wir werden diesen Antrag positiv bearbeiten, weil
sich Mehmed hier nichts hat zuschulden kommen lassen”, verspricht Jörg
Hallex. So könnte Mehmed ein Einreisevisum beantragen, nach Belzig
zurückkehren und sein Abitur ablegen. Die Wiesenburger Tierarztfamilie
Kriegler wird dann für ihn sorgen, auch dies ist Einreisevoraussetzung.
Vorläufig bleibt dem Paar nur, die Mischlingshündin Luxa aus den Armen einer
laut weinenden Vesna Memic zu nehmen, die sich von dem Tier nicht trennen
will. Die Eltern haben inzwischen mit der Wiesenburger Pfarrerin Dagmar
Greupner die Wohnung verlassen. Sie hatte die Familie erst 36 Stunden zuvor
kennen gelernt, war in der letzten schlaflosen Nacht bei ihr geblieben und
durfte sie bis zum Flughafen begleiten. Gegen 6.30 Uhr ist alles vorbei,
zurück bleiben eine eingerichtete Wohnung — die Familie darf nur mit 20
Kilogramm Handgepäck pro Person ausreisen — und Menschen, die sich langsam
zerstreuen. “In spätestens sechs Monaten feiern wir Wiedersehen”, ruft
jemand im Gehen. “Na, hoffentlich”, wird geantwortet. “Nicht hoffentlich,
Mensch, Du musst sagen, sicher!”