Das Findelkind Duc sollte in Deutschland die Behandlung bekommen, die ihm in Vietnam verwehrt wurde. Eine Familie nahm Duc auf — doch das Jugendamt versuchte alles, das Kind abzuschieben. VON MARINA MAI
Duc hat das erste Mal in seinem Leben eine Familie. Seine Pflegeeltern in einer Kleinstadt in Brandenburg spricht der Junge mit “Mama” und “Papa” an. Seine große Schwester ist sein Vorbild. Wenn sie aus der Schule nach Hause kommt, läuft er ihr freudig entgegen. An ihrer Hand erkundet er die Umgebung des Hauses der Pflegeeltern. Von ihr hat er Inlineskaten gelernt. Die Pflegefamilie H., ein Beamter und eine Hausfrau, wollen den Jungen, den sie über zwei Jahre lieb gewonnen haben, adoptieren. Doch wenn es nach dem Jugendamt und der Ausländerbehörde Luckenwalde im Landkreis Teltow-Fläming gegangen wäre, wäre Duc, der in Wirklichkeit anders heißt, längst nach Vietnam abgeschoben worden. In ein Waisenhaus.
Vor einem Waisenhaus in Ho-Chi-Minh-Stadt wurde der Junge, dessen genaues Alter niemand kennt, auch einst als Findelkind abgelegt. Er hatte schwere organische Schäden; Ducs Pflegemutter Margarete H. vermutet dahinter eine Spätfolge des Entlaubungsmittels Agent Orange. Das haben das US-amerikanische Militär im Vietnamkrieg vor mehr als 35 Jahren in großen Mengen abgeworfen. Noch heute werden in dem Land deshalb jährlich hunderttausende Kinder mit Behinderungen geboren. Den meisten Familien fehlt das Geld für die ärztliche Behandlung.
Das Geld fehlt auch den Waisenhäusern. “Duc wurde dort mit den schwerstgeschädigten Kindern gemeinsam in Schlafsälen verwahrt, gefüttert und manchmal im Bett angebunden”, behauptet seine Pflegemutter. Ihm hätten jedwede Reize gefehlt, die ein Kind zur geistigen und körperlichen Entwicklung braucht. Obwohl der Junge normal intelligent ist, hat er neben seinen Organschäden auch Entwicklungsrückstände. Ein medizinisches Gutachten aus Vietnam bescheinigte ihm jahrelange Unter- und Fehlernährung.
2006 kam Duc gemeinsam mit anderen schwerkranken Kindern aus seinem Heim zur Heilbehandlung nach Deutschland, finanziert durch Spenden. Denn wenn sie operiert werden, haben sie die Chance auf ein Leben ohne Behinderung. Die Operationen ziehen sich über Jahre. Bei seiner Ankunft vor zwei Jahren war Duc nur knapp einen Meter groß, obwohl er laut Pass fast acht Jahre alt sein sollte.
Vermittelt hatte die Heilbehandlung die Hamburger International Childs Care Organisation, kurz Icco. 1997 gegründet galt sie in Deutschland lange als seriöse Anlaufstelle für Auslandsadoptionen und als Hilfsorganisation für behinderte Kinder in armen Ländern. Doch Ende 2006 geriet die Icco ins Visier der Staatsanwaltschaft Hamburg. Der Vorwurf: Untreue und Kinderhandel. Sie soll Kinder am Gesetz vorbei und gegen Bezahlung adoptionswilligen deutschen Familien vermittelt haben.
“Die Organisation fragte uns damals, ob wir ein behindertes Kind aus Vietnam aufnehmen und die medizinischen Behandlungen organisieren würden”, erinnert sich Margarete H. Ihre Familie stand auf einer Liste von Menschen, die ihre Bereitschaft dazu erklärt hatten. H. erfuhr erst Monate nach ihrer Zusage von den Vorwürfen gegen Icco. Sie wandte sich Anfang 2007 an das Jugendamt und bat um einen Amtsvormund für Duc, der den bisherigen Vormund von Icco ablösen sollte. “Wir wollten uns von der Organisation distanzieren.”
Doch statt einer Klärung brachte der Kontakt zum Jugendamt in Luckenwalde der Familie H. ernsthafte Probleme. “Bei ihrem ersten und einzigen Besuch in unserer Familie zweifelte die neue Vormünderin vom Jugendamt die Identität unseres Pflegesohnes an.” Grund: Für seine damals neun Jahre war das Kind viel zu klein. “Die Behörden behaupteten, Duc sei nicht der Junge aus seinem Pass, und wollten ihn deshalb zurückschicken”, erinnert sich Margarete H.
Das Jugendamt, das eigentlich das Waisenkind schützen sollte, verständigte die Ausländerbehörde. Die entzog Duc die Aufenthaltserlaubnis zur medizinischen Behandlung, obwohl noch Operationen bevorstanden. Sie behielt den Pass ein. Duc war jetzt ausreisepflichtig. Erst nach einer Intervention der Integrationsbeauftragten des Landes Brandenburg, Karin Weiss, wurde sein Aufenthalt wieder gestattet — vorübergehend bis zur Feststellung seiner Identität.
Die klärte sich fast ein Jahr später: Zwei Tage zuvor hatte die taz das Jugendamt nach seinem Umgang mit Duc gefragt. Noch während der Recherchen erhielt der Junge von der Ausländerbehörde seinen Pass zurück. Für das Landesjugendamt Potsdam waren bereits fünf Monate vorher alle Zweifel an Ducs Identität ausgeräumt gewesen. Dessen Sprecher Michael Grunwald erklärt: “Das deutsche Generalkonsulat hat uns die Identität des Kindes zweifelsfrei bestätigt. Und das haben wir schon damals den Behörden in Luckenwalde gesagt.”
Davon unbeirrt wollten Jugendamt und Ausländerbehörde in Luckenwalde auch weiterhin nachweisen, dass Duc nicht Duc sein sollte. Sie stellten Strafanzeige gegen unbekannt wegen Falschbeurkundung. Sie schickten Duc zu Röntgen- und Zahnuntersuchungen und zur Blutabnahme, um sein Alter schätzen zu lassen. Die ergaben ein viel jüngeres Alter als das im Pass.
Pflegemutter Margarete H.: “Ich hatte ja auch Zweifel an seinem Alter. Ich schätze, dass er heute zwischen sechs und neun Jahren alt ist, obwohl er laut Pass zehn sein soll.” Aber sie habe sich gesagt, das sei halt ein Findelkind. “Er wurde vor einem Heim abgelegt. Da hat sich das Heimpersonal wohl bei der Altersschätzung vertan.” Petra Schlagenhauf, die Anwältin der Familie, ergänzt: “Jedem sollte klar sein, dass das Alter von Findelkindern fiktiv ist und nicht zur Identitätsfeststellung taugt.”
Dass ihr Pflegesohn wie möglicherweise andere Icco-Kinder ein Opfer von Kinderhandel durch diese Organisation wurde, hatte Margarete H. immer ausgeschlossen. “Ich habe Fotos und Dokumente von Duc im Waisenhaus gesehen. Sein Sozialverhalten ist das eines jahrelang elternlosen und nicht geförderten Kindes.” Anwältin Schlagenhauf ergänzt: “Handel mit behinderten Kindern zur Adoption macht auch überhaupt keinen Sinn.” Das sah das Jugendamt anders. “Da die Ausländerbehörde berechtigte Zweifel an der Identität des Kindes hatte, sind die entsprechenden Prüfungen eingeleitet worden”, sagt Jugendamtsleiterin Waltraut Kahmann.
Und während die Behörden im brandenburgischen Luckenwalde die Identität des Jungen prüften, wurde versäumt, ihn zu fördern. Margarete H.: “Die Vormünderin hat sich nicht um die Schulanmeldung gekümmert. Sie hat den Antrag des Schularztes auf Frühförderung über Monate nicht unterschreiben.” Frühförderung steht Duc wegen seiner Entwicklungsrückstände vor der Einschulung zu. In einem Schreiben, das der taz vorliegt, hat Jugendamtsleiterin Waltraut Kahmann, fünf Monate nachdem der Schularzt die Frühförderung genehmigt hatte, prüfen lassen, ob ihr Landkreis dafür die Kosten tragen muss. Sie selbst erklärt es anders: “Die Frühförderung konnte erst nach Abschluss der medizinischen Behandlung erfolgen. Die Vorwürfe sind sachlich nicht richtig und entbehren jeder Grundlage.”
Das sah das Vormundschaftsgericht in Luckenwalde anders. Es entzog im April dem Jugendamt die Vormundschaft für Duc. Das Amt könne nicht die Interessen des Kindes wahrnehmen, urteilte die Richterin. Margarete H.: “Erst seit diesem Tag hatten wir keine Angst mehr, Duc zu verlieren. Wir hatten bis dahin den Eindruck, die Vormünderin als seine gesetzliche Vertreterin kann ihn jederz
eit abschieben lassen.”
Bundesweite Schlagzeilen
2006 hatte das Jugendamt Luckenwalde schon mal bundesweit Schlagzeilen gemacht. Damals fand die Polizei zwei unterkühlte Kinder, die mitten im Winter in einem unbeheizten Verschlag hausen mussten. Obwohl das Jugendamt von der Kita informiert war, dass die Geschwister einen vernachlässigten Eindruck machten, hatte es sich kein Bild vor Ort gemacht. Auf dem Grundstück lebten Kampfhunde. Die Wahlkreisabgeordnete Kornelia Wehlan (Linke) will prüfen lassen, ob das Jugendamt im Fall Duc ebenso versagt hat wie vor zwei Jahren.
Ein Detail stößt Anwältin Petra Schlagenhauf besonders bitter auf: Als sie vergangenen Sommer die Jugendamtsleiterin gebeten hatte, für Duc eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, hätte die ihr Unverständnis darüber bekundet, warum kranke Kinder aus Vietnam überhaupt ein Visum zur medizinischen Behandlung nach Deutschland bekämen. Amtsleiterin Waltraut Kahmann bestreitet das. “Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt so geäußert.”