(MAZ, 6.4.) Der Videoposten der Wache Mitte beobachtete in der Nacht zu Sonntag eine
vierköpfige Gruppe am Hauptbahnhof, einer daraus zeigte um 0.40 Uhr den
Hitlergruß. Später rief an der Haltestelle Kirschallee einer “Sieg Heil”.
Zivilkräfte der Polizei konnten die 21-jährigen Haupttäter aus
Teltow-Fläming und Potsdam ermitteln. Gegen sie wurden Anzeigen wegen des
Verdachts der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
aufgenommen. Das Quartett kam in Polizeigewahrsam.
Bewährungsstrafe für Mittäter
Aus dem Gerichtssaal: Zweiter Prozeß wegen rechtsextremen Überfalls auf Azubi
(MAZ, 6.4.) Vor dem Amtsgericht endete gestern der zweite Prozess im Fall des
17-Jährigen, der am 23. März 2003 von Rechtsradikalen auf dem Bahnhof
Potsdam-Rehbrücke verprügelt und auf die Gleise geworfen wurde. Wegen
Beteiligung an gefährlicher Körperverletzung und wegen unerlaubten
Waffenbesitzes wurde Enrico P. zu 18 Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf
drei Jahre Bewährung und 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit, verurteilt. Das
Gericht folgte weitestgehend dem Plädoyer der Staatsanwältin, die für diese
“völlig sinnlose Tat” allerdings 200 Stunden mehr gemeinnützige Arbeit
gefordert hatte. Einen “Mitläufer”, der sich mit einem Beitrag zu der Tat
habe bekennen wollen, nannte Richterin Birgit von Bülow den 25-Jährigen. In
seinem Teilgeständnis, das er gestern nach der Zeugenvernehmung ablegte,
erklärte er, das Opfer zwar festgehalten, gezogen und geschubst, aber nicht
geschlagen zu haben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt als der mittlerweile zu
sechs Jahren Haft verurteilte Heiko G. sowie Jens F. das Opfer bereits mit
Tritten, Fausthieben und einem Totschläger malträtierten. Das Opfer hatte
ausgesagt, von dem Trio umringt gewesen und mit Fußtritten und Totschläger
verprügelt worden zu sein. Ob auch der Angeklagte zutrat, konnte er nicht
mit Bestimmtheit sagen. Das Gericht hielt ihm zugute, dass er es war, der
dem Opfer auf die andere Bahnsteigseite half, nachdem ihn Heiko G. auf die
Gleise geworfen hatte. Nach der Tat, so der Angeklagte, habe ihm Heiko G.
den Totschläger gegeben, den die Polizei bei der Festnahme im Rucksack fand.
Den hätte er wegwerfen sollen, belehrte ihn die Richterin.
Auf die Frage nach dem Motiv antwortete der arbeitslose Straßen- und
Kanalbauer: “Ich hatte eigentlich keinen Grund.” Das Gericht attestierte ihm
klares Bewusstsein, auch wenn die Polizei knapp anderthalb Stunden nach der
Tat einen Blutalkohol von 2,2 Promille feststellte. Er habe zu der Zeit viel
getrunken, gestand der Angeklagte.
Bewährungsstrafe für rechte Schläger
17-Jähriger wurde angegriffen, weil er einen Antifa-Sticker trug
(Tagesspiegel, 6.4.) Potsdam. Wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das
Waffengesetz ist am Montag ein 25-Jähriger aus der rechten Szene zu einer
Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt worden. Das Gericht sah es als
erwiesen an, dass sich der Angeklagte am 23. März 2003 mit zwei weiteren
Tätern an der Misshandlung eines 17-jährigen Auszubildenden beteiligt hatte.
Zusätzlich muss der 25-Jährige innerhalb eines Jahres 300 Stunden soziale
Arbeit ableisten.
Das Opfer trat im Prozess als Nebenkläger auf. Nach seinen Angaben hatte er
an diesem Tag um 2.20 Uhr am Bahnhof Rehbrücke alleine auf einen Zug
gewartet, als er mit einem Teleskopschlagstock auf Kopf, Arme und Beine
geschlagen sowie mit Füßen getreten wurde. Er trug unter anderem einen
Nasenbeinbruch, Platzwunden und Prellungen davon. Die Richterin bezeichnete
den Angeklagten als “Mittäter”. Besonders verwerflich sei, dass es für die
Misshandlungen keinen Anlass gegeben habe. Die Täter hätten den 17-Jährigen
der linken Szene zugeordnet, weil er auf seiner Jacke einen Aufnäher mit
durchgestrichenem Hakenkreuz getragen habe und ihn daraufhin attackiert. Als
mildernde Umstände wertete die Richterin ein Teilgeständnis des Angeklagten
und seine Entschuldigung beim Opfer. Der Haupttäter war bereits im Februar
vom Landgericht Potsdam zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt
worden.
Hassgesänge im Internet
(MAZ, 6.4., Ralf Stork) POTSDAM Zehdenick (Oberhavel), Ende Februar: Ein 20-Jähriger hält kurz vor
Mitternacht mit seinem Wagen an einer Tankstelle an, steigt aus, brüllt
“Heil Hitler” und fährt weiter. Der Tankstellenpächter verständigt die
Polizei, die das Auto kurze Zeit später stoppen kann. Der Fahrer und die
beiden Beifahrer sind betrunken. Die Anlage ist bis zum Anschlag aufgedreht.
Es läuft aggressive Skinheadmusik, Hassgesänge, in denen zu Gewalt gegen
Ausländer und Linke aufgerufen wird. 30 selbstgebrannte CDs stellen die
Polizisten in dem Auto sicher. Gegen die drei jungen Männer wird Anklage
wegen Volksverhetzung erhoben.
Rechtsextreme Musik zu beschlagnahmen gehört für die Brandenburger
Polizisten zum Alltagsgeschäft. Vor allem am Wochenende werden die Beamten
in Privatwohnungen und Autos fündig. “Die meisten Hinweise erhalten wir aus
der Bevölkerung”, sagt Rudi Sonntag, Sprecher des Potsdamer
Polizeipräsidiums: Nachbarn rufen die Polizei, weil aus der Wohnung oder vom
Parkplatz nebenan infernalisch laute Musik mit wummernden Bässen dröhnt. Die
Beamten rücken aus, um die nächtliche Ruhe wieder herstellen und stoßen
dabei immer wieder auf Tonträger, die auf dem Index des Verfassungsschutzes
oder der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften stehen.
Musikalisch decken die Neonazibands das gesamte Spektrum ab, vom braunen
Liedermacher Frank Rennicke bis hin zur Heavy-Metal-Musik der Gruppen
“Landser” oder “Störkraft”. Obwohl die Produktion rechtsextremer Musik seit
Jahren rückläufig ist, werden die Tonträger in immer größerer Zahl über
Tauschportale im Internet unter das Gesinnungsvolk gebracht. Konkrete Zahlen
über die Häufigkeit der Tauschaktivität und der Menge der beschlagnahmten
Tonträger liegen nicht vor, weil die Funde nicht zentral gesammelt werden.
Das Grundprinzip der Internettauschbörsen ist simpel: Jeder Nutzer stellt
Dateien auf seiner eigenen Festplatte zur Verfügung, andere Nutzer können
auf diese Dateien zugreifen und sie direkt von PC zu PC herunterladen. Da
die großen Tauschbörsen jede Woche von einigen Millionen Menschen genutzt
werden, ist es sehr schwierig, die rechten Nutzer auszufiltern.
Erst vor einigen Tagen waren bei einer bundesweiten Razzia auch zehn
Brandenburger festgenommen worden, denen vorgeworfen wird, auf der
Internettauschbörse “Kazaa” unter Rubrik “National Folk” verbotene Titel
unter anderem von der Band “Zillerthaler Türkenjäger” zum Runterladen bereit
gestellt haben.
Mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms war es Kriminalbeamten
gelungen, bundesweit 360 Datenverbindungen zu Anbietern
rechtsextremistischer Musiktitel im Internet zu verfolgen. Einige
Verbindungen führten nach Brandenburg. “Bei den Hausdurchsuchungen in
Brieselang, Mahlow, Zehdenick, Finsterwalde, Cottbus und Lübben wurden 13
Computer, ein Laptop, zwei Festplatten und zahlreiche CDs sichergestellt”,
sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Cottbus. Gegen die zehn
Brandenburger wird wegen Volksverhetzung ermittelt. Im Falle einer
Verurteilung müssen sie wegen der Verbreitung rassistischer Schriften mit
einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen.
Im Jugendministerium kennt man die Gefahr, die von dem neuen Vertriebsweg
für Nazimusik resultiert. “Dieser Verbreitungsweg hat sich in den letzten
Jahren enorm entwickelt”, sagt der Sprecher des Ministeriums Thomas Hainz.
Eine vollkommene Kontrolle könne es nicht geben. Die erfolgreiche Razzia
zeige den Nutzern aber, dass auch das Internet kein rechtsfreier Raum ist
und der Verfolgungsdruck steige.
Im Kampf gegen rechtsextreme Musik im Internet setzt das Land vor allem auf
die Zusammenarbeit mit dem “jugendschutz.net”. Die bundesweite Organisation
wird von den Jugendministerien der Länder finanziert und hat zu den
Ermittlungserfolgen der jüngsten Razzia mit beigetragen. Unter der
E‑Mail-Adresse hotline@jugendschutz.net können Internet-Nutzer Beschwerden
über verfassungsfeindliche oder pornografische Inhalte im Internet aufgeben.
Jäger der verbotenen Musik
(Berliner Zeitung, 6.4., Katrin Bischoff) EBERSWALDE. Aus dem kleinen Büro von Björn K. dringt Musik. Nichts
Besonderes, doch der Text dazu lässt innehalten: “Es kommt die Zeit — Sieg
heil — in der sich das Volk wieder wehrt” — ist zu hören. Doch keiner der
auf dem Gang vorbei eilenden Polizisten scheint sich an diesem Text zu
stören. Björn K. ist selbst Polizist. Und die Art von Musik, wie sie gerade
zu hören ist, ist seine tägliche Arbeit. Der 27-jährige Kriminalkommissar
vom Landeskriminalamt in Eberswalde (Barnim) ist seit zwei Jahren beim
Staatsschutz für Musik der rechtsextremen Szene zuständig.
Gerade hat Björn K. einen Karton auf den Tisch bekommen: 80 CDs sind darin.
Vor kurzem sichergestellt bei einem 21-Jährigen aus Eisenhüttenstadt. Gegen
diesen Mann läuft ein Verfahren wegen Verdachts des Verwendens von
Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. “Etwa zwei Drittel der CDs
sind schwarz gebrannt”, sagt der junge Kriminalist nach einem Blick in die
Kiste. Das bedeutet für ihn viel Arbeit. Muss er doch CD für CD abhören und
Textzeile für Textzeile mitschreiben. Manchmal, bei englischen Texten, muss
er sie auch erst übersetzen. Und dann beurteilen, ob die Lieder
gewaltverherrlichende Passagen tragen, die zur Anzeige gebracht werden
müssen, oder aber jugendgefährdend sind. “Bei CDs, die vorher noch nirgends
in Deutschland ausgewertet wurden, schaffe ich höchstens zwei am Tag”, sagt
K. Nur im günstigsten Fall werden CDs samt Booklet entdeckt, in dem die
Songtexte abgedruckt sind. Insgesamt kommt Björn K. auf 1 000 CDs im Jahr.
Eine nicht gerade hochmoderne Musikanlage steht dem jungen Fahnder zur
Verfügung. Auch ein Computer — und damit eine Datenbank des
Bundeskriminalamtes, in der alle bereits auf dem Index stehenden Songs oder
Bands gespeichert sind. Gespeist wird sie von allen Landeskriminalämtern.
Björn K. kann in ihr nach Titeln, Interpreten, Teilen von Liedern fahnden.
Rund 2 050 Tonträger sind derzeit in der Datenbank zu finden. Gruppen wie
“Zillertaler Türkenjäger”, “Stahlgewitter” oder “Rassenhass” sind darin
aufgeführt. Bands, die in ihren Songs zu Mord an Juden oder anders Denkenden
aufrufen, die die Gewalt verherrlichen. Bei denen muss Björn K. ein
Verfahren gegen Hersteller und Interpreten der CDs einleiten. Bei
jugendgefährdenden Inhalten meldet der Kriminalist die Songs an die
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Die entscheidet, ob die CD
auf den Index kommt und nicht mehr an Jugendliche vertrieben werden darf.
Björn K. hört gerade eine Kassette von “Frontalkraft” ab. “Wir bekennen uns”
heißt der Song, der seine Aufmerksamkeit erregt. Er lässt den Song immer
wieder ablaufen. Dann geht er an den Computer. “Noch nicht in der
Datenbank”, stellt der Ermittler fest. Das müsse aber nicht bedeuten, dass
der Song noch nicht erfasst worden sei. “Vielleicht ist er unter einer
anderen Textzeile abgelegt”, sagt Björn K., und sucht weiter.
Björn K. weiß, welche Wirkung Songs mit rechtsextremem Inhalt haben. Gerade
bei Jugendlichen. “Musik sagt mehr als 1 000 Worte”, erklärt er. Eltern
wüssten manchmal gar nicht, welche Musik ihre Kinder hören. “Von den Bands
werden alle Musikrichtungen bedient”, sagt er und spielt einen scheinbaren
Schmusesong an, der in der Zeile gipfelt: “Wir werden wieder auferstehen”.
“Eltern sollten mehr auf Texte hören”, sagt K. Und auch Lehrer. Darum
spricht der junge Mann auch oftmals vor Pädagogen.
Übrigens: Nach der Arbeit hört Björn K. keinerlei Musik mehr.
RHEINSBERG/NEURUPPIN Gestern Vormittag verhandelte das Amtsgericht Neuruppin einen der versuchten Anschläge gegen den Rheinsberger Döner-Imbiss von Mehmet Cimendag. Nach zwei Stunden hatten Richter, Staatsanwalt und Verteidiger große Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten.
Der Angeklagte Frank M. wurde 1982 geboren, er ist ledig und wohnt allein in Rheinsberg. Er ist Vater eines dreijährigen Kindes, das bei der Mutter lebt. Unterhalt hat er noch nie gezahlt, da er selbst nur Sozialhilfe bezieht. Die Förderschule schloß er mit der zehnten Klasse ab. Eine Mahlerlehre beendete er nicht. Richter Gerhard Pries fragt ihn, weshalb. Er will konkret wisse: „Können Sie sich einen anderen, besseren Beruf für sich vorstellen? Was hat Ihnen nicht gefallen?“ Der Angeklagte antwortet: „Nein.“ Beim Ein-Wort-Satz bleibt es.
Der Staatsanwalt trägt die beiden Anklageschriften zu zwei unterschiedlichen Tatvorwürfen vor, beide denen es aber jeweils um Mehmet Cimendag als Geschädigten geht. Am Abend des 11.August 2003 soll Frank M. mit seinem Bekannten Ron W. unterwegs gewesen sein. Dabei soll Frank M. eines der Rücklichter des Imbisswagens eingetreten haben Außerdem soll er gemeinsam mit Ron W. eine Plastetüte unter den Wagen gelegt haben, die jeder der beiden Kumpels zuvor an einer Enke anzündete. Eine Passantin meldete den entstehenden Brand. Der Wagen des Kurden blieb bis auf das Rücklicht unversehrt. Die zweite Anklageschrift befasst sich mit einem Vorfall wenige Tage zuvor. Die beiden Freunde sollen am 7. August am Imbiss vorbei gegangen sein. Dabei soll Frank M. den Betreiber beschimpft haben: „Scheiß Memo-Grill, scheiß Döner.“
In der Befragung erinnert sich Frank M., gegen das Rücklicht getreten zu haben, doch er habe nur „geguckt, was Ron da mit der Tüte macht“. Außerdem will er gesagt haben: „Laß die Scheiße sein.“ Die Tat von Ron W. wurde bereits gesondert im Schnellverfahren verhandelt. Der 18-Jährige erhielt einen vierwöchigen Jugendarrest.
Richter Pries will von Frank M. wissen, ob sie den Anschlag zuvor geplant hatten. Die Antwort: „Wir wollten nur in die Stadt gucken.“ Pries erinnerte an die Protokolle vom Sommer : „ Da steht, dass sie eine Rudolf-Hess-Fahne um den Oberkörper gebunden hatten“ Die Antwort, wie alle anderen auch leise und undeutlich vorgetragen: „ Kann sein, kann nicht sein.“
Nach einiger Zeit und mehreren Nachfragen erinnert er sich, wohl mal so eine Fahne gehabt zu haben. Doch es stimme nicht, was Ron W. damals über ihn zu Protokoll gab. Pries: „Haben sie die Tüte mit angezündet?“ Der Angeklagte: „Das kann nicht sein.“ Die Frage nach den angeblichen Beschimpfungen beantwortet Frank M. dann wieder mit: „Kann sein, kann nicht sein.“
Zeuge Ron W. sagt zunächst, der Angeklagte habe die Tüte nicht mit angesteckt. Und von den Beschimpfungen wisse er überhaupt nichts. Erst nach Vorhaltungen der alten Aussagen sagt er: „Wenn es da drin steht, dann stimmt das.“
Frank M. lebte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs im Kinderheim. Seitdem kümmert sich ein Betreuer um seine Finanzen, schreibt Briefe für ihn und erledigt vieles andere mehr. Als gutmütig schätzt der Betreuer ihn ein. Und als leicht verleitbar: „Wenn einer zu ihm sagt, dass er springen soll, dann springt er.“ Die Frage des Richters, welche Haltung er gegenüber Ausländern habe, hatte Frank M. zuvor beantwortet: „Jetzt gar keine mehr.“ Und früher? „Früher hatte ich eine.“ Welche? Keine Antwort.
Schließlich stellt der Betreuer fest, dass Frank M schon mehrfach das weitere Leben und Arbeiten in einer geschützten Werkstatt für Menschen mit Behinderungen angeboten wurde. Doch sein Schützling meine dann stets, dort einfach hin zu gehören.
Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sehen sich außer Stande, die Sache weiter ohne psychiatrisches Gutachten zu behandeln. Denn es gehe in jedem Fall um ein Verbrechen, für das mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe anstünde. Vor allem könne man sich aber nicht sicher sein, dass Frank M. danach nicht doch bald wieder als Angeklagter vor Gericht sitzt, weil er womöglich wirklich vieles vergisst und ihm die Einsicht in die Notwendigkeit fehlt. Das Gutachten soll klären, ob Frank M. nur bedingt oder nicht schuldfähig ist. Da die Erstellung einer solchen Expertise aber einige Wochen dauert, wird dann eine neue Hauptverhandlung beginnen.
NEURUPPIN Der fünfte Verhandlungstag gegen die neun Angeklagten wegen der Ausschreitungen am Wittstocker Jugendclub Havanna begann mit einer längeren Verzögerung und brachte nur wenig neue Erkenntnisse.
Bevor mit der Verhandlung vor dem Neuruppiner Landgericht negonnen werden konnte, teilte die Richterin mit, dass der Angeklagte Markus M. aus Meyenburg keien Fahrgelegenheit hätte, um nach Neuruppin zu kommen. Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. Schließlich die Vorsitzende ihn mit der Polizei bringen.
Fast zwei Stunden später – um 10.40 Uhr – erschien der 27-Jährige und begrüßte alle mit einem „Guten Morgen“.
Wie schon einige Zeugen vorher, konnte sich auch der 22-jährige Ronni T. aus Wittstock kaum noch an Einzelheiten des 13. Oktober 2001 erinnern. „Die Uhrzeit, wann ich ankam, weiß ich nicht mehr. Ich kam an, habe Bier getrunken und dann stand die Polizei vor der Tür.“ Von den Angeklagten kenne er vier Leute. „Die Flaschen haben wir rausgeschmissen, weil wir uns von draußen angegriffen fühlten – durch das Tränengas, das von allen Seiten kam.“
Nachdem sich der Zeuge Fotos von Partygästen angesehen hatte, bemerkte der Verteidiger des Angeklagten Christopher H., dass der Zeuge genauso groß sei wie sein Mandant. Das Gericht ging nicht weiter darauf ein. Gegenstand der Verhandlung war auch der Bericht der Bewährungshelferin von Christopher H Sie sei sehr überrascht gewesen, dass er bei der Havanna-Geschichte dabei war. „Das hätte ich nicht erwartet.“ Christopher sei nicht der Draufgängertyp, sondern „höflich, freundlich und auskunftsbereit“. Ihre Erklärung für die Beteiligung an der Barrikade gegen die Polizei: „Vielleicht hat er sich verleiten lassen und erst hinterher über die Konsequenzen nachgedacht.“ Der Zeuge André H., der bereits selbst rechtskräftig wegen derselben Vorfälle verurteilt worden ist, konnte gestern ebenfalls nur wenig Neues berichten. „Wir haben zwei bis drei Stunden gefeiert, dann stand die Polizei vor der Tür.“ Obwohl sie freiwillig den Club verlassen wollten, hätte sie die Polizei nicht gelassen. Zum Schluss seiner Befragung meinte er, dass er sich zu 100 Prozent daran erinnern könne, dass der Angeklagte Enrico S. auf ihn zugekommen sei und sagte, „sie sollen die Scheiße sein lassen“.
Beschuldigte gestanden Tat
(Berliner Zeitung) BRANDENBURG/HAVEL. Fünf Jugendliche aus Brandenburg/Havel haben am
Freitagabend einen 22-jährigen Obdachlosen misshandelt und ausgeraubt. Wie
die Polizei am Sonntag mitteilte, tranken die 16 und 17 Jahre alten
mutmaßlichen Täter auf einer Parkbank mit dem Opfer Bier. “Gegen 21.30 Uhr
fingen die Jugendlichen an, den Mann zu schlagen. Bisher ist unbekannt,
warum es zu der Gewalttat kam”, sagte ein Polizeisprecherin. Der 22-Jährige
sei zunächst von einem der jungen Männer in den Schwitzkasten genommen
worden, die anderen hätten dem Mann abwechselnd ins Gesicht geschlagen.
Nachdem der Geschädigte blutend zu Boden ging, traten die Jugendlichen
weiter auf ihn ein. Da sie bei dem 22-Jährigen kein Geld fanden, raubten sie
ihm die Armbanduhr. Erst ein Zeuge beendete die Gewaltorgie. Bei der
sofortigen Fahndung konnte die Polizei vier der Tatverdächtigen festnehmen.
Der Fünfte wurde kurz darauf ermittelt. Die Jugendlichen gestanden die Tat.
Sie wurden an ihre Eltern übergeben. Das 22-jährige Opfer erlitt Prellungen
und eine Rippenfraktur. Es wurde nach Behandlung im Krankenhaus auf eigenen
Wunsch aus der Klinik entlassen. Gegen die Jugendlichen wird nun wegen
Körperverletzung ermittelt.
Brandenburg/Havel: Obdachloser zusammengeschlagen
(MAZ) Fünf Brandenburger Jugendliche trafen sich am späten Freitagabend auf einem Spielplatz in Brandenburg/Nord. Hier saß auf einer Parkbank ein 22-jähriger Obdachloser aus der Stadt. Dieser war den Jugendlichen bekannt, so dass die
16–17-Jährigen sich auf ein Bier zu ihm gesellten. Einige Zeit später kam jemand aus der Gruppe der Jugendlichen darauf, den Obdachlosen zu schlagen. Dieser wurde dann durch einen Täter in den Schwitzkasten genommen, die
Anderen schlugen ihm abwechselnd mit den Fäusten ins Gesicht. Nachdem der Geschädigte, von den Schlägen benommen und blutend, zu Boden ging, wurde auf ihn eingetreten. Zu guter letzt reifte die Idee, dem am Boden liegenden das
Geld abzunehmen. Da nichts zu finden war, nahm man ihm kurzer Hand die Armbanduhr weg. Erst ein hinzukommender Zeuge beendete die Gewaltorgie. Im Rahmen der sofortigen Fahndung konnten vier der fünf Tatverdächtigen
festgenommen werden, der Fünfte wurde später ermittelt. Nachdem alle gestanden haben wurden die gar nicht oder nur wegen kleinerer Delikte polizeibekannten Jugendlichen auf Weisung der Staatsanwaltschaft an die
Eltern übergeben. Der Geschädigte wurde auf Grund von diversen Prellungen im Gesicht sowie einer Rippenfraktur im Klinikum behandelt und auf eigenen Wunsch entlassen. Die Jugendlichen werden sich später vor einem Gericht verantworten müssen.
An Rolf Wischnath kam man nicht vorbei. Für die einen war der Cottbuser
Generalsuperintendent eine moralische Instanz, weil er sich in
gesellschaftliche Debatten einmischte. Für andere war er, gerade weil er
sich nicht auf die Theologie beschränkte, eine Reizfigur. Jetzt verlässt er
die Lausitz. Eine schwere Krankheit zwingt den 56-Jährigen in den
vorläufigen Ruhestand. Morgen wird er in der Cottbuser Oberkirche offiziell
verabschiedet.
«Ich gehe hier ausgesprochen un gern weg» , sagt Rolf Wischnath und sein
Blick wandert aus dem Fenster des Wintergartens hinaus in die
Frühjahrssonne. Noch ein paar Wochen, dann kommt der Möbelwagen für den
Umzug der Familie nach Gütersloh. Zu vielen Menschen hier in der Region habe
er inzwischen eine so große Nähe entwickelt. «So viele persönliche
Abschiede, die eigentlich notwendig wären, kann man gar nicht aushalten» ,
sagt er.
Acht Jahre lang stand Rolf Wischnath als Generalsuperintendent an der Spitze
des Kirchensprengels Cottbus. Der reicht von Senftenberg über den Spreewald
bis nach Zossen bei Berlin und bis zum Oderbruch. Im Februar 2003 warf ihn
eine schwere psychische Erkrankung völlig aus der Bahn. Seit dem ist er
nicht arbeitsfähig und weil er nicht weiß, ob und wann er einer beruflichen
Belastung wieder standhält, geht er jetzt in den einstweiligen Ruhestand.
Rolf Wischnath hat die Öffentlichkeit nie gescheut. Dass sich der Ausbruch
seiner Krankheit auch unter den Augen der Öffentlichkeit abspielte, war ein
tragischer Zufall. Ein Streit zwischen ihm und der Kirchenleitung
Berlin-Brandenburg über den Umgang der Kirche mit einem vermeintlichen
Stasi-Verdacht gegen den aus Westfalen stammenden Geistlichen, führte zum
Ausbruch seiner Erkrankung. «Ein anderes Ereignis hätte das auch auslösen
können» , sagt Wischnath heute rückblickend.
Zwei Monate nach dem öffentlichen Streit legte der Präses der Synode der
Evangelischen Kirche Deutschland, Jürgen Schmude, einen Bericht vor, wonach
der Verdacht gegen Wischnath ebenso unbegründet gewesen sei, wie dessen
Vorwürfe gegen die Kirchenleitung. Wischnath bedauerte sein Verhalten, das
von seiner psychischen Erkrankung geprägt worden war. In zwei Punkten hält
der Theologe jedoch noch heute an seiner Auffassung fest. Die Kirchenleitung
hätte ihn, als der Verdacht aufkam, gleich einweihen müssen und hätte sich
keinen Rat beim Verfassungsschutz holen dürfen. Für die Kirche müssten
Kontakte zum Geheimdienst, egal zu welchem, generell tabu sein.
Nach Theologiestudium und kirchlicher Arbeit in Nordrhein-Westfalen war
Wischnath 1990 Pfarrer in Berlin geworden. Fünf Jahre später kam er nach
Cottbus. «Spannend und anstrengend» sei die Zeit in der Lausitz gewesen,
sagt er. Weil den Menschen schwere Veränderungen bei der Gestaltung der
deutschen Einheit zugemutet wurden, es aber spannend war, diese Einheit
mitzugestalten. Beeindruckt haben ihn auch die ostdeutschen
Lebensgeschichten, mit denen er konfrontiert wurde. «Das hat mein Bild von
der DDR rigoros verändert» , sagt Wischnath. Früher habe er geglaubt, die
DDR sei reformierbar gewesen. Erst in der Lausitz habe er gelernt, wie
marode und wie menschenverachtend sie gewesen sei. Einem traditionellen
Linken wie Wischnath muss das schwer gefallen sein. Bis November 2001 war er
SPD-Mitglied, als junger Mann Mitglied im Sozialistischen Hochschulbund und
in der kirchlichen Friedensbewegung. In diesem Zusammenhang war er öfter in
die DDR gereist.
«Mein Leben hier in der Lausitz hat insgesamt eine Dichte gehabt, das hätte
ich im Westen nie gehabt» , sagt Rolf Wischnath, der diese Dichte auch
dadurch erzeugte, dass er sich einmischte. Dabei, so versichert er, habe er
sich fast immer von den Gemeinden in seinem Kirchensprengel unterstützt
gefühlt. Eine Ausnahme vielleicht sein über Essays im Magazin “Spiegel”
ausgetragener Disput mit dem damaligen Berliner Innensenator und jetzigen
Brandenburger Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). Das Thema damals: die
Abschiebung von Asylbewerbern. Wischnath hatte infrage gestellt, ob
Schönbohm ob seiner Ausländerpolitik noch zum Abendmahl zugelassen werden
dürfte. Bei einem kurz darauf stattgefundenen Gespräch in Cottbus, so
versichern heute beide, habe sich persönlicher Respekt vor einander
entwickelt. Das hielt Wischnath nicht davon ab, auch in den folgenden Jahren
immer wieder mit Schönbohm kontrovers über Kirchenasyl, Abschiebung und
andere Fragen des Umgangs mit Flüchtlingen zu d iskutieren. «Ich rechne ihm
hoch an, dass er kürzlich gesagt hat, wir seien oft anderer Meinung, aber
eines Glaubens» , fasst Wischnath ihr Verhältnis zusammen.
Auch über die Zielrichtung und die Aufgaben des brandenburgischen
Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit,
dessen Vorsitzender Wischnath seit 2000 war, stritt er mit Schönbohm. Im
Nachhinein, so der Kirchenmann, frage er sich, ob es richtig war, so viel
Mühe und Zeit darin zu investieren: «Ich bin skeptisch, ob wir damit
wirklich eine Bewusstseinsänderung erreicht haben oder ob nicht Schönbohm
recht hatte, der sagte, dass hier das Schwert des Rechtsstaates geschwungen
werden müsse.»
Schönbohm dagegen sagt, dass Wischnath immer wieder die Bedeutung der
Zivilgesellschaft betont und dadurch das Aktionsbündnis entscheidend
vorangebracht habe. «Er ist ein überzeugter und überzeugender Gottesmann, er
war belebend für Brandenburg» , so Schönbohm. Er bedauere sehr, dass
Wischnath aus Krankheitsgründen ausscheiden müsse.
Zur Wehmut, die sich für Wischnath in den Wegzug aus der Lausitz mischt,
trägt der Abschied vom Cottbuser Theater bei. Speziell das Musiktheater sei
für ihn immer ein Ort der Freude und Entspannung gewesen. In Gütersloh, dem
Geburtsort des Geistlichen, wird er mit seiner Familie in sein Elternhaus
ziehen. Dort dauerhaft untätig zu sein, kann er sich nicht vorstellen: «Ich
hoffe, dass ich in irgendeiner Form noch mal ein kirchliches Amt bekommen
kann, wenn mein Gesundheitszustand das zulässt.»
Den Lausitzern wünscht Wischnath, dass es mit und nach der EU-Osterweiterung
einen wirtschaftlichen Aufschwung in der Region geben möge.
Angekommen in der Lausitz
Noch immer kommen jedes Jahr tausende Familien aus Russland und Kasachstan
als Spätaussiedler nach Deutschland. Jahrzehnte, zwei, drei, vier
Generationen liegen zwischen ihren deutschstämmigen Verwandten hier zu Lande
und den Neuankömmlingen. Ihre Integration ist schwer. Familie Wolf aus Forst
hat es geschafft, vor allem durch eigenes Zutun.
Manchmal ruft Lilia Wolf (43) nach Wladislaw und Wjatscheslaw, wenn sie von
ihren großen Söhnen Werner (17) und Walter (16) etwas will. So hießen die
beiden Jungs, als die Familie, zu der noch Ehemann Valerie (62) und das
Nesthäkchen (12) mit gleichem Namen gehören, im November 1994 aus Omsk nach
Deutschland übersiedelte. «Ich habe nun einmal zwei Muttersprachen, deutsch
und russisch. Da passiert das einfach spontan. Die längste Zeit in meinem
Leben habe ich bisher schließlich in Russland verbracht» , sagt Lilia.
Ihre neuen Namen haben die Jungs erhalten, «weil die russischen hier einfach
schwer auszusprechen sind» . Dass auch Lilia Wolf ihren Vornamen ändern
musste, lag dagegen an der deutschen Bürokratie. Ihre Geburtsurkunde lautet
nämlich auf «Lilija» . Einen solchen Vornamen mit «j» , so befanden die
Behörden, gebe es in Deutschland nicht. Also wurde die Lilija zur Lilia.
Andere, größere Schwierigkeiten
Gemessen an manch anderem Neuen war das für sie eher von geringer Bedeutung.
Viele Schwierigkeiten, die Aussiedler nach ihrer Ankunft in dem vom
Hörensagen «gelobten Land» haben, hatten auch die Wolfs: den schwierigen,
ungewohnten Umgang mit Behörden, das Suchen nach dem neuen Zuhause, nach
einer Arbeit, das Auskommen mit dem Überbrückungsgeld, das zunächst viel
erschien im Vergleich zu dem, was sie im westsibirischen Omsk hatten und das
im Alltag in Deutschland dann gar nicht mehr so viel war.
Einen Nachteil hatte Lilia Wolf, auch im Vergleich zu ihrem Mann Valerie,
allerdings nicht: Die mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache. «Das
Schicksal hat mir und meinen beiden Geschwistern ein großes Geschenk
gemacht» , sagt sie und blickt zurück: Beide Großväter und Großmütter haben
den Krieg überlebt. Das gab es kaum in einer anderen Familie in Russland.
Die Großeltern haben nur deutsch gesprochen. Sie hatten Bücher, Zeitungen,
die Bibel in ihrer Sprache. “Wir haben gemeinsam deutsche Lieder gesungen
und den Märchen unserer Großmütter gelauscht. So sind auch meine Kinder
aufgewachsen”, erzählt die zierliche, schwarzhaarige Frau.
Kinder reden heute akzentfrei
Kein Wunder, dass Werner, Walter und Valerie sich heute akzentfrei mit ihren
Forster Mitschülern auf dem Gymnasium, mit Freundinnen und Freunden im
Tanzsportklub «Rose» in Forst oder in der Musikschule unterhalten können.
Denn die Wolfs wohnen nicht nur seit Februar 1995 in der Rosenstadt, sondern
sie sind auch angekommen in der neuen Gesellschaft. Vor allem, weil sie ihr
neues Leben selbst in die Hand genommen haben.
Vor gut fünf Jahren haben sie mit Gleichgesinnten den Tanzsportklub «Rose»
Forst e. V. gegründet. Lilia ist die Vorsitzende, Valerie Senior der
Sportwart. Werner, der Älteste, tanzt inzwischen in der Sonderklasse im
Turniertanzsport, Walter und Valerie gehören in ihren Altersklassen zur
tänzerischen Elite der Bundesrepublik. Die Klavier spielenden Söhne haben
zudem zweimal am Landeswettbewerb «Jugend musiziert» teilgenommen. Lilia und
Valerie geben Tanztraining für Klubmitglieder in Forst, Guben, Grabko, Peitz
und Cottbus, verdienen sich damit ihren Lebensunterhalt. Reich werden sie
dabei nicht. «Wir leben bescheiden, unser Konto steht immer auf Null» , gibt
Lilia zu und räumt ein: «Wir könnten von Sozialhilfe zwar nicht besser, aber
ruhiger leben.»
Beides aber wollen die Wolfs nicht. Sie sind, wie viele andere Aussiedler
auch, nach Deutschland gekommen, weil «die Kinder eine gute Bildung und eine
vernünftige Perspektive» haben sollten, sagt Lilia Wolf, die von Beruf
Lehrerin ist. Diese Chancen hatten sie in Sibirien nicht, weil das Geld
dafür fehlte. Drei Kinder, drei Koffer und 500 Mark waren ihr ganzes Hab und
Gut beim Grenzübertritt.
Die Wolfs hatten keine großen Ansprüche. Nur tanzen, dieser Leidenschaft
nachgehen, wollte die Familie weiter. «Im Heim in Peitz hat man uns gesagt:
Darum müsst ihr euch selbst kümmern.» Sie taten es. Als sie nach
Zwischenstationen in den zentralen und brandenburgischen Aufnahmestellen für
Aussiedler in Friedland und Peitz ins Aussiedlerheim nach Briesnig bei Forst
kamen, liefen Vorbereitungen für die Nikolausfeier. Wolfs, die schon in Omsk
im Kulturpalast professionell und aus Hobby getanzt hatten, führten spontan
ein kleines Programm auf. Die RUNDSCHAU berichtete damals. Der Leiter der
Forster Musikschule las davon. Lilia und Valerie Wolf wurden freiberufliche
Lehrer. Heute leben und arbeiten sie für den Tanzverein, in dem Aussiedler
und Einheimische, vor allem Kinder und Jugendliche, Hobby und Leistungssport
nachgehen.
Empfang beim Bundespräsidenten
«Integration durch Sport» , von einer Aussiedlerfamilie vorangebracht, da
wird die Politik aufmerksam. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias
Platzeck lud Lilia Wolf als Anerkennung für ihre Arbeit ein, auch
Bundespräsident Johannes Rau bat sie zum traditionellen Neujahrsempfang für
verdienstvolle Bürger.
Anerkennung, die auch durch Neid und Ärger begleitet ist. Da gebe es
Vorwürfe, nur die Aussiedlerkinder zu fördern und die heimischen Kinder zu
diskriminieren, nennt die Tanztrainerin als Beispiel. «Die Stelle des
Jugendwarts im Verein, die bis vor kurzem unbesetzt war, wollte von den
Kritikern aber keiner einnehmen» , hält sie dagegen.
Lilia Wolf kann unbequem sein und hartnäckig. Sie hilft im Alltag, der für
Neuankömmlinge aus Russland ungewohnt, manchmal kompliziert ist bei den
vielen Paragrafen, die das Leben in Deutschland regeln, und bei
Behördengängen, die notwendig sind bei einem Neuanfang in einem noch fremden
Heimatland.
Sprache jahrzehntelang unterdrückt
Familie Wolf aus Forst hatte neben eigener Courage sicher auch Glück. «Ich
habe nie gedacht, dass wir mit unserer künstlerischen Arbeit in Deutschland
was machen können» , gibt Lilia Wolf zu. Probleme bei der Integration haben
aus ihrer Sicht viele Ursachen. Das sind die Vorbehalte der Deutschen gegen
«die Russen» , die noch nicht einmal richtig deutsch sprechen könnten.
«Keiner denkt daran, dass die Sprache jahrzehntelang unterdrückt wurde, nur
noch ein paar Worte übrig geblieben sind» , sagt sie. Die Frau mit dem
asiatischen Teint kann in solchen Fällen nur schwer ruhig bleiben.
Sie sieht aber auch viele Ursachen im Verhalten der Aussiedler selbst. «Die
Leute erwarten zu viel und bekommen in Heimen wie in der Gubener Straße in
Forst dann erst einmal einen Schock. Sie bleiben passiv, haben keine Arbeit,
warten nur ab. Jugendliche kommen in Schwierigkeiten und werden kriminell,
weil die Eltern Disziplin, Ordnung und Pflichten nicht durchsetzen.» Und, so
fügt die Forsterin hinzu: «Sie haben keine Hoffnung, dass sie etwas
erreichen können.»
Lilia Wolf, die ja eigentlich Lilija heißt, und ihre Familie wollen ein
Stück Zuversicht vermitteln — durch die «Integration durch Sport» , durch
ihre tägliche Hilfe. Damit Spätaussiedler wie sie möglichst schnell ihr
Zuhause finden im Land ihrer Groß- und Urgroßeltern, das ihre neue Heimat
werden soll.
Jugendliche müssen Wohnung räumen
Ladeburg (MOZ) Es herrscht Aufbruchstimmung im Ladeburger Jugendtreff “Die Wohnung”. Jessica und Martin balancieren auf einem Tisch und versuchen, Drähte einer Lampe aus den Lüsterklemmen zu lösen. Gestern sollten die
Jugendlichen den Klub räumen, er wird geschlossen.
Das Ende für den Jugendklub war lange absehbar. Einst vom damaligen Bürgermeister Ulrich Hermann als kurzfristige Lösung genehmigt, war die Bleibe an der Bernauer Straße 7 in Ladeburg immer bloß eine Übergangslösung.
Eigentlich sollte der Klub bereits im Winter geschlossen werden, als die Stadtverwaltung das Gebäude an die WoBau verkaufen wollte. Damals konnte man
sich jedoch einigen. Die AWO schloss einen offiziellen Mietvertrag ab und
versicherte die Jugendlichen. Die Stadt genehmigte die Nutzung bis Ende
März, so dass die Jugendlichen wenigstens über die kalten Wintermonate ein
Dach über dem Kopf hatten. Freundliche Ladeburger und eine Brennstofffirma
spendeten zwei Tonnen Kohlen (MOZ berichtete).