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Flucht & Migration Gender & Sexualität Law & Order

Solidarität mit Aram M. und Vlad B.!

Stellen Sie sich vor, Sie sind ver­liebt. Stellen Sie sich vor, der geliebte Men­sch erwidert Ihre Gefüh­le. Sie führen eine Beziehung. Richtig ern­sthaft und es fühlt sich gut an. So eine Sache, die mit Respekt und Aus­tausch zu tun hat, mit Spaß und geteil­ten Inter­essen, so eine Sache mit lan­gen Gesprächen und allem, was für Sie dazu gehört,
allem, was Sie glück­lich macht.
Stellen Sie sich vor, Sie ziehen mit dem lieb­sten Men­schen in eine Woh­nung und der Ver­mi­eter kündigt ihnen nach kurz­er Zeit den Mietver­trag, weil er Ihre Liebe für Sodomie hält. Stellen Sie sich vor, auf einem Ihrer gemein­samen Spaziergänge wer­den sie bei­de zusam­mengeschla­gen, weil andere es als ekel­er­re­gend empfind­en, wenn Sie bei­de Hand in Hand gehen. Stellen Sie sich vor, bei der Polizei wer­den Sie nicht ernst genom­men, aus­gelacht, Ihnen wird sog­ar die Schuld an den Schlä­gen zugeschrieben. Schließlich sind Sie ja nur zwei Män­ner, die sich lieben.
Das war für Aram M. und seinen Part­ner Vlad B. lange die Real­ität. Aram flieht aus Arme­nien nach Rus­s­land, nach­dem er in seinem Geburt­s­land aus­ge­gren­zt und diskri­m­iniert, von sein­er Fam­i­lie ver­stoßen wurde, wed­er Arbeit noch Woh­nung fand. Alles wegen sein­er Homo­sex­u­al­ität. Alles, weil er nicht ver­steck­en wollte, dass er Män­ner liebt. In Moskau lernt er Vlad ken­nen, die bei­den ver­lieben sich, wer­den ein Paar. Nach­dem sie im Park zusam­mengeschla­gen wur­den entschließen sich die bei­den, nach Deutsch­land zu gehen, in ein Land, in dem sie sich Frei­heit und Akzep­tanz für ihr Leben wünschen.
Sie kaufen sich Flugtick­ets, ver­lassen ihr altes Leben und wollen ein neues begin­nen, von dem sie sich Besseres erhof­fen, Frei­heit zum Beispiel, die Frei­heit, zu lieben, wen sie wollen, die Frei­heit, ihre Liebe zu zeigen, zu feiern, die Frei­heit, sich nicht zu ver­steck­en, ohne Angst zu leben.
Am Flughafen Berlin-Tegel nimmt man ihnen die Pässe ab und anschließend wer­den die bei­den in die Erstauf­nah­mein­rich­tung nach Eisen­hüt­ten­stadt gebracht. Kaum dort angekom­men begin­nt die Ernüchterung — auf­grund der im Som­mer 2015 zunehmenden Anzahl von Men­schen, die vor Krieg und Ver­fol­gung Schutz suchen, wer­den sie in Mannschaft­szel­ten unterge­bracht. Ihre Part­ner­schaft wird auch in Eisen­hüt­ten­stadt nicht ernst genom­men, es scheint für die Sozialarbeiter_innen vor Ort unmöglich, dass zwei Män­ner ein Paar, eine Fam­i­lie bilden, die Kon­se­quenz daraus: Sie wer­den unter­schiedlichen Zel­ten zugewiesen. Die zwei, die so lange als Paar gekämpft haben, ein Paar sein zu dür­fen, die als Paar ihre Heimat ver­lassen haben, wer­den gle­ich als erstes in dem ver­meintlich frei­heitlichen Land getren­nt. Und es geht genau­so weit­er: nach 12 Tagen erfol­gt die Unter­bringung in Notun­terkün­ften, Aram kommt nach Frankfurt/Oder, Vlad nach Kirch­mös­er, einem Stadt­teil von Bran­den­burg an der Hav­el. Dort lernt er Alis­sa ken­nen. Sie ist selb­st aus Rus­s­land geflo­hen, nach­dem in ihrer Nach­barschaft Flug­blät­ter aushin­gen, die sie als Pädophile dif­famierten. Alis­sa ist les­bisch und LGBTI-Aktivistin und stellt den Kon­takt zu Emma Sil­ver­stein her. Die küm­mert sich, nimmt Kon­takt zu Har­ald Pet­zold, Bun­destagsab­ge­ord­neter der LINKEN und deren queer­poli­tis­ch­er Sprech­er, auf. Der macht Druck beim BAMF: wie es sein könne, ein Paar nach solchen trau­ma­tis­chen Erleb­nis­sen zu tren­nen. Wenige Tage später zieht Aram zu Vlad ins Heim. Aber der Ärg­er hat kein Ende: die Sozialarbeiter_innen der Notun­terkun­ft rat­en den bei­den, ihre Homo­sex­u­al­ität zu ver­ber­gen, son­st dro­he Ärg­er mit anderen mus­lim­is­chen Heimbewohner_innen.
Sechs Monate leben sie in dem Heim, sechs Monate geht das Ver­steck­spiel weit­er. So hat­ten sie sich das Leben in Deutsch­land nicht vorgestellt. Die bei­den wollen in eine eigene Woh­nung. Sie haben nach wie vor Angst. Es gibt viel Aus­tausch mit dem Sozialamt, viele Diskus­sio­nen, es kostet viel Kraft, viel Energie. Endlich beziehen sie mit einem anderen les­bis­chen Paar eine Ver­bund­woh­nung in Bran­den­burg an der Hav­el, drei Zim­mer für vier Per­so­n­en. Endlich etwas Pri­vat­sphäre. Aram spricht Englisch und etwas Deutsch, Vlad begin­nt mit dem Deutschunter­richt. Aram bemüht sich um Arbeit, find­et eine Prak­tikumsstelle in einem Friseur­sa­lon. Er mag es, wieder zu arbeit­en, lernt immer bess­er Deutsch zu sprechen. Auch die Kund_innen nehmen Anteil an sein­er Geschichte, sie fra­gen, wo er herkommt, warum er gegan­gen ist. Die meis­ten wis­sen gar nicht, wie schlimm die Sit­u­a­tion queer­er Men­schen an vie­len Orten dieser Erde ist.
Mit­tler­weile sind sie Teil der LGBTI-Com­mu­ni­ty in der Havel­stadt, sie gehen gemein­sam zu Par­tys und begin­nen sich ein neues Leben aufzubauen. Gemein­sam mit Vlad und Aram sowie anderen LGBTI-Aktivist_in­nen vor Ort haben wir, eine Gruppe von Unterstützer_innen, eine Refugee-LGBTI-Con­fer­ence vom 15. bis 17. April organ­isiert und durchge­führt, mit dem Ziel, Men­schen zusam­men­zubrin­gen und zu unter­stützen. Nun brauchen Aram und Vlad Unter­stützung, denn nach fast einem Jahr bekommt das Paar die Ein­ladun­gen zum Inter­view beim BAMF. Bei­de erhal­ten unter­schiedliche Ter­mine. Wieder wer­den sie als Paar nicht ernst genom­men. Ihr Anwalt ruft mehrmals beim BAMF an und ver­weist darauf, dass die bei­den zusam­men als Lebenspart­ner nach Deutsch­land gekom­men sind und deshalb auch einen gemein­samen Ter­min erhal­ten müssen — mit Erfolg.
Während des Inter­views wurde Aram nicht zu sein­er Sit­u­a­tion in Arme­nien befragt. Immer wieder, wenn er ver­sucht, darauf zu sprechen zu kom­men, wird er abgewürgt. Schließlich habe er mehrere Jahre in Rus­s­land ver­bracht und sei von dort in die Bun­desre­pub­lik ein­gereist, so die Argu­men­ta­tion der BAMF-Mitar­bei­t­erin. Und warum die bei­den ihre Homo­sex­u­al­ität nicht dezen­ter gelebt hät­ten. Das hät­ten sie doch nach dem ver­meintlichen Über­fall im Park auch getan und da hät­ten sie dann ja auch keine Prob­leme gehabt. Anson­sten ist auch hier die Part­ner­schaft kein The­ma. Es gehe um Aram per­sön­lich, sein rus­sis­ch­er Part­ner tue da nichts zur Sache. Nach einem Monat und 12 Tagen kommt der Neg­a­tivbescheid, das Asylver­fahren ist abgeschlossen — vorerst.
Begrün­dung: Da Aram über Rus­s­land ein­gereist sei, gelte §3AsylG nicht, da er nicht aus dem Land käme, dessen Staat­sange­hörigkeit er besitzt. Eine begrün­dete Furcht vor Ver­fol­gung als Homo­sex­ueller in Arme­nien habe er nicht vor­ge­tra­gen. Außer­dem sei die Ver­fol­gung als Homo­sex­ueller in Arme­nien nicht wahrschein­lich. Sein Lebenspart­ner Vlad hat bish­er keine Antwort vom BAMF.
Hal­ten wir fest: Aram wurde beim Inter­view daran gehin­dert, über die Gründe der Aus­reise von Arme­nien nach Rus­s­land zu sprechen. Das BAMF erken­nt die Part­ner­schaft der bei­den Men­schen nach wie vor nicht an, denn in ihrem Welt­bild scheinen nur Mann und Frau ein Paar bilden zu kön­nen. Soll­ten Men­schen sich nicht diesem Muster unterord­nen, wollen sie Doku­mente sehen, eine Heirat­surkunde zum Beispiel. Nur ist die Heirat gle­ichgeschlechtlich­er Men­schen sowohl in Arme­nien, in Rus­s­land und auch in Deutsch­land nicht möglich.
Wir lassen unsere Fre­unde nicht alleine und kämpfen für die Anerken­nung der bei­den als Lebenspart­ner und dafür, dass wed­er Aram nach Arme­nien, noch Vlad nach Rus­s­land abgeschoben wird. Wir haben uns entschlossen, unseren Kampf öffentlich zu führen, zum einen, um nicht nur Aram und Vlad, son­dern auch anderen LGBTI-Geflüchteten zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, und zum anderen, um auf die diskri­m­inierende Prax­is des BAMF aufmerk­sam zu machen.
Wir wer­den am Mittwoch den 29. Juni um 19:00 Uhr in der Geschäft­stelle der Partei DIE LINKE, Kirch­hof­s­traße 1–2, 14776 Bran­den­burg an der Hav­el, ein erstes offenes Tre­f­fen ver­anstal­ten. Ziel ist es, Öffentlichkeit zu schaf­fen und gemein­sam zu berat­en, wie wir die bei­den in Zukun­ft unter­stützen können.
Orgateam der Refugee-LGBTI-Conference

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(Anti-)Rassismus Antifaschismus Law & Order

Einstufung der Maghreb-Staaten als «sichere Herkunftsstaaten»

Sehr geehrter Herr Min­is­ter­präsi­dent Dr. Woidke,
sehr geehrter Herr stel­lvertre­tender Min­is­ter­präsi­dent Görke,
voraus­sichtlich am 17. Juni 2016 ste­ht im Bun­desrat die Zus­tim­mung zum Gesetz über die Ein­stu­fung von Alge­rien, Marokko und Tune­sien als «sichere Herkun­ftsstaat­en» (Bun­destags­druck­sache 18/8039) im Sinne des § 29a AsylG auf der Tage­sor­d­nung. Wir richt­en den drin­gen­den Appell an Sie, mit den vier Stim­men des Lan­des Bran­den­burg der erneuten Ausweitung der Liste der «sicheren Herkun­ftsstaat­en» die Zus­tim­mung zu ver­weigern. Diese Ein­stu­fung eines Staates hat für Asyl­suchende aus diesen Län­dern gravierende Konsequenzen.
Ursprünglich sah das Konzept der «sicheren Herkun­ftsstaat­en» lediglich vor, dass von vorn­here­in angenom­men wurde, dass Asy­lanträge von Per­so­n­en aus diesen Staat­en prinzip­iell unbe­grün­det seien und dass dies im Einzelfall von den Betrof­fe­nen wider­legt wer­den müsse. Diese Grun­dan­nahme führte in vie­len Fällen dazu, dass Asylver­fahren oft nach nur ober­fläch­lich­er Prü­fung sehr schnell als «offen­sichtlich unbe­grün­det» abgelehnt wurden.
Doch neben diesen gravieren­den Ein­schränkun­gen im Asyl­recht wurde auch das Aufen­thalt­srecht in den let­zten Monat­en um viele weit­ere Vorschriften ergänzt, die dazu führen, dass Per­so­n­en aus als «sich­er» beze­ich­neten Staat­en hier ein­er ganzen Rei­he von zusät­zlichen Sank­tio­nen und Aus­gren­zun­gen aus­ge­set­zt sind:
Asyl­suchende aus «sicheren Herkun­ftsstaat­en» müssen für die gesamte Dauer des Asylver­fahrens in den Erstauf­nah­meein­rich­tun­gen verbleiben und nach ein­er Ablehnung auch bis zur Aus­reise – das heißt, eine Verteilung in die Land­kreise und die kre­is­freien Städte find­et nicht mehr statt. Dadurch soll ver­hin­dert wer­den, dass sie sich hier inte­gri­eren kön­nen, denn dies wird als Hin­der­nis für eine rei­bungslose Abschiebung ange­se­hen. Als Neben­ef­fekt bedeutet dies auch, dass sie für den gesamten Zeitraum des Aufen­thalts in der Bun­desre­pub­lik ein­er Sach­leis­tungsverpfle­gung unter­liegen, da in den Erstauf­nah­meein­rich­tun­gen der Großteil der Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz auf diese Weise geleis­tet wird.
Auch bleibt die Res­i­den­zpflicht, die in den let­zten Jahren stark an Bedeu­tung ver­loren hat­te und für andere Asyl­suchende nur noch in den ersten drei Monat­en beste­ht, für diese Gruppe weit­er­hin zeitlich unbe­gren­zt in Kraft. Zusät­zlich zu der all­ge­meinen Straf­be­wehrung von bis zu einem Jahr Gefäng­nis oder Geld­strafe sieht das Gesetz seit dem Asyl­paket II vor, dass auch ein sim­pler Res­i­den­zpflichtver­stoß dazu führen kann, das das Asylver­fahren ganz ohne inhaltliche Prü­fung eingestellt wird, wenn Betrof­fene in ein­er «beson­deren Auf­nah­meein­rich­tung» unterge­bracht sind. Die Möglichkeit, solche «beson­deren Auf­nah­meein­rich­tun­gen» zu schaf­fen, wurde den Län­dern eben­falls durch das Asyl­paket II eingeräumt.
Schlussendlich kann das Bun­de­samt für Migra­tion und Flüchtlinge schon direkt bei der Ablehnung eines Asy­lantrags ein Wiedere­in­rei­se­ver­bot aussprechen, eine Sank­tion, die anson­sten nur im Fall ein­er Abschiebung oder Ausweisung erfol­gt, nicht jedoch durch die sim­ple Tat­sache, dass jemand im Asylver­fahren abgelehnt wurde. Sämtliche hier ange­sproch­enen Sank­tio­nen und Aus­gren­zungsmech­a­nis­men sind seit dem Som­mer 2015 oder später in das Gesetz aufgenom­men wor­den, also seit es die Diskus­sion über die Ein­stu­fung der Staat­en des West-Balka­ns als «sichere Herkun­ftsstaat­en» gab. Damals wurde die Büchse der Pan­do­ra geöffnet, jet­zt gilt es, zumin­d­est den men­schen­rechtlichen und inte­gra­tionspoli­tis­chen Schaden nicht noch größer wer­den zu lassen.
Doch auch abge­se­hen von prinzip­iellen Erwä­gun­gen in Bezug auf das Konzept der «sicheren Herkun­ftsstaat­en» ste­ht die Men­schen­recht­slage in allen drei Staat­en ein­er Ein­stu­fung als «sichere Herkun­ftsstaat­en» diame­tral ent­ge­gen. Amnesty Inter­na­tion­al führt in sein­er Stel­lung­nahme zum Geset­zen­twurf der Bun­desregierung zu Alge­rien, Marokko und Tune­sien aus, warum Ein­schränkun­gen der Mei­n­ungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit, außerg­erichtliche Hin­rich­tun­gen, Folter und Mis­shand­lun­gen, aber auch der fehlende Schutz vor sex­u­al­isiert­er Gewalt und das Ver­bot gle­ichgeschlechtlich­er Sex­u­alkon­tak­te ekla­tant gegen die Ein­stu­fung als «sicher­er Herkun­ftsstaat» sprechen (vgl. http://www.amnesty.de/files/Amnesty-Stellungsnahme-Innenausschuss-April2016.pdf).
Aber auch der Geset­zen­twurf der Bun­desregierung selb­st weist auf erhe­bliche Defizite im Jus­tizsys­tem hin:
In Bezug auf Alge­rien heißt es dort etwa: «Die Rechte der Beschuldigten im Prozess wer­den nicht immer beachtet. Die Gerichte üben in der Regel keine wirk­same Kon­trolle staatlichen Han­delns aus. Die in der Ver­fas­sung garantierte Unab­hängigkeit von Gericht­en und Richtern ist in der Prax­is nicht immer gewährleis­tet. Gel­tende Geset­ze und Vorschriften wer­den nicht immer ein­heitlich und flächen­deck­end ange­wandt. (…) Den Bürg­erin­nen und Bürg­ern fehlt nach wie vor das Ver­trauen in die Jus­tiz, sie sehen vor allem in poli­tisch rel­e­van­ten Strafver­fahren Hand­lungs­be­darf. Nach belast­bar­er Ein­schätzung von Men­schen­recht­sor­gan­i­sa­tio­nen und Jour­nal­is­ten nimmt die Exeku­tive in solchen Fällen unmit­tel­bar Ein­fluss auf die Entschei­dun­gen des Gerichts» (BT-DS 18/8039 , S. 10). Zu Tune­sien spricht der Geset­zen­twurf selb­st von extrale­galen Tötun­gen in Haft und Fällen von Folter: «Tune­sis­che und inter­na­tionale Medi­en sowie spezial­isierte Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tio­nen, wie die Organ­i­sa­tion Mon­di­ale con­tre la Tor­ture (OMCT) oder die Organ­i­sa­tion con­tra la Tor­ture en Tunisie (OCTT), bericht­en kon­tinuier­lich über Einzelfälle von Folter, ins­beson­dere in der Polizei­haft, unmen­schliche Behand­lung in den Haf­tanstal­ten, die nicht europäis­chen Stan­dards entsprechen, sowie Bestre­bun­gen, rechtliche Schritte gegen die Ver­ant­wortlichen einzuleit­en. Bis­lang sei es jedoch in keinem einzi­gen Fall gelun­gen, eine Verurteilung von Amtsper­so­n­en oder ehe­ma­li­gen Amtsper­so­n­en wegen Folter, unmen­schlich­er oder erniedri­gen­der Behand­lung oder Bestra­fung zu erre­ichen» (BT-DS 18/8039, S. 15).
Sehr geehrte Mit­glieder des Bun­desrates für das Land Bran­den­burg, schon aus dem Geset­zen­twurf selb­st geht also her­vor, dass sich die Ein­stu­fung von Alge­rien, Marokko und Tune­sien als «sichere Herkun­ftsstaat­en» nicht recht­fer­ti­gen lässt. Das Bun­desver­fas­sungs­gericht hat für eine solche Ein­stu­fung gemäß § 29 a AsylG hohe Hür­den errichtet: «Für die Bes­tim­mung eines Staates zum sicheren Herkun­ftsstaat muss Sicher­heit vor poli­tis­ch­er Ver­fol­gung lan­desweit und für alle Per­so­n­en- und Bevölkerungs­grup­pen beste­hen» (BVer­fGE 94, 115). Das Konzept der «sicheren Herkun­ftsstaat­en» darf nach der Recht­sprechung des BVer­fG nicht ange­wandt wer­den, «wenn ein Staat bei genereller Betra­ch­tung über­haupt zu poli­tis­ch­er Ver­fol­gung greift, sei diese auch (zur Zeit) auf eine oder einige Per­so­n­en- oder Bevölkerungs­grup­pen begren­zt. Tut er dies, erscheint auch für die übrige Bevölkerung nicht mehr generell gewährleis­tet, dass sie nicht auch Opfer asyl­rechtlich erhe­blich­er Maß­nah­men wird» (Bver­fGE 94, 115, Rn. 71). Wer­den die Kri­te­rien des BVer­fG auf die Men­schen­rechtssi­t­u­a­tion in Alge­rien, Marokko und Tune­sien ange­wandt, so führt ins­beson­dere die Ver­fol­gung Homo­sex­ueller in allen drei Staat­en dazu, dass die Staat­en nicht in die Liste der «sicheren Herkun­ftsstaat­en» gem. § 29a AsylG aufgenom­men wer­den dürfen.
Wir appel­lieren daher – auch im Namen der vie­len Haupt- und Ehre­namtlichen, der Flüchtlingsini­tia­tiv­en und Beratungsstellen – an Sie, den Flüchtlingss­chutz nicht weit­er auszuhöhlen und der Ein­stu­fung von Alge­rien, Marokko und Tune­sien als «sichere Herkun­ftsstaat­en» aus ver­fas­sungsrechtlichen Grün­den Ihre Zus­tim­mung zu verweigern.
Mit fre­undlichen Grüßen
Flüchtlingsrat Brandenburg

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Antifaschismus Law & Order

Zukunftsdialog” in Frankfurt (Oder): Wer über den NSU nicht reden will, sollte zur Zukunft schweigen

Frank­furt (Oder) — Am Sam­stag find­et in Frank­furt (Oder) der “Zukun­fts­di­a­log” statt. Dieses Ver­anstal­tungs­for­mat macht in ver­schiede­nen Bran­den­burg­er Städten und Gemein­den Sta­tion und soll den Dia­log zwis­chen lan­despoli­tis­chen Expert_innen, Bürger_innen und Multiplikator_innen zu den The­men Flüchtlinge, Inte­gra­tion und rechter Gewalt stärken.
Ein­ge­laden ist unter anderem stets — und so auch am Sam­stag in Frank­furt — der Bran­den­bur­gis­che Ver­fas­sungss­chutz (VS). Er sprich, in Gestalt des Ref­er­enten Sebas­t­ian Haase, als Experte zum The­ma “Recht­sex­trem­is­mus in Bran­den­burg / Frank­furt (Oder)”.
Schaut man sich die Exper­tise des Ver­fas­sungss­chutzes an, fall­en allerd­ings mehrere Aspek­te auf, die an der Kom­pe­tenz des staatlichen Geheim­di­en­stes zweifeln lässt:
— Der VS ver­fol­gt einen extrem­is­mus­the­o­retis­chen Ansatz bei sein­er Analyse gesellschafts­ge­fährden­der Aktiv­itäten. Das bedeutet, dass für ihn eine demokratis­che “Mitte” der Gesellschaft existiert, an dessen linken und recht­en (und islamistis­chen) Rän­dern sich die demokratiefeindlichen “Extreme” befind­en sollen. Diese Rän­der wer­den beobachtet, und Infor­ma­tio­nen ggf. an Strafver­fol­gungs­be­hör­den weit­ergeleit­et. Das Prob­lem ist nur: Was macht der VS eigentlich mit den ganzen Rassist_innen, die seit einiger Zeit wie Pilze aus dem Boden der frei­heitlich-demokratis­chen Grun­dord­nung schießen? Die “Mitte” radikalisiert sich mehr und mehr hin­sichtlich men­schen­ver­ach­t­en­der Ein­stel­lun­gen, während der VS verzweifelt ver­sucht, sie als Vorzeigedemokrat_innen zu charak­ter­isieren. Der­weilen wer­den linke Akteure weit­er­hin dif­famiert, weil sie als Bedro­hung für die Gesellschaft gelten.
— Die jährlichen Pub­lika­tio­nen des VS sind in der Regel Zusam­men­stel­lun­gen bere­its veröf­fentlichter Analy­sen zum The­ma “Recht­sex­trem­is­mus”. Der VS greift also auf Schriften zurück, die von lokalen Akteuren, oft in ehre­namtlich­er Arbeit, erstellt wur­den. Soweit, so ein­fach gemacht. Quellen wer­den meist nicht angegeben. Es stellt sich die Frage, worin denn dann die Exper­tise des VS im Bere­ich “Recht­sex­trem­is­mus” beste­ht, wenn er sowieso über­wiegend auf bere­its vorhan­denes Mate­r­i­al zurück­greift. (Anscheinend gibt es ger­ade sehr viel abzuschreiben, denn für 2015 ist immer noch kein VS-Bericht erschienen.)
— Der Bran­den­burg­er VS ste­ht momen­tan in mas­siv­er Kri­tik auf­grund sein­er zweifel­haften Rolle im Umgang mit der Neon­azi-Organ­i­sa­tion Nation­al­sozial­is­tis­ch­er Unter­grund (NSU). Im momen­tan in München stat­tfind­en­den Gerichtsver­fahren äußern Nebenkläger_innen die Ver­mu­tung, dass es eine Mitver­ant­wor­tung des bran­den­bur­gis­chen VS für die Nichter­grei­fung der drei Haupttäter_innen des NSU gibt.
Das klingt nicht beson­ders kom­pe­tent, geschweige denn vertrauenserweckend.
Obwohl Men­schen­würde und Gle­ich­berech­ti­gung zen­trale Werte der Ver­fas­sung sind, hat der Ver­fas­sungss­chutz immer wieder gezeigt, dass er in Angrif­f­en auf diese Werte zunächst keine Angriffe auf die Demokratie erblickt. So kann man als AfD-Mit­glied mit der Idee vom Schuss­waf­fenge­brauch an der Gren­ze gegen Flüchtlinge auf Stim­men­fang gehen oder bei PEGIDA Flüchtlinge mit her­ab­würdi­gen­der Rhetorik ent­men­schlichen – die Ver­fas­sungss­chutzämter inter­essieren sich erst dann für Ras­sis­mus, sobald sie den Ver­dacht auf ein zusät­zlich­es, ominös­es „extrem­istis­ches“ (d.h. die sog. frei­heitlich-demokratis­che Grun­dord­nung im Ganzen über­winden wol­len­des) Ele­ment haben. In der Gesellschaft grassierende men­schen­ver­ach­t­ende Ungle­ich­heit­side­olo­gien und die daraus resul­tieren­den sehr realen Gefahren für Leib und Leben ganz beson­ders der Flüchtlinge wer­den auf diese Weise sys­tem­a­tisch verharmlost.
Utopia e.V.
Frank­furt (Oder), den 09.06.2016

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Klima & Umwelt Law & Order

Gedanken zu Ende Gelände 2016

Plöt­zlich Bewegung
Mittwochmit­tag, ein son­niger Maitag, Ankun­ft auf dem Kli­macamp in Proschim. Es ist nicht das erste, dass ich in dieser Gegend erlebe und die ersten (pos­i­tiv­en) Ein­drücke sind auch nicht viel anders als bei anderen linken Camps der let­zten Jahre. Hier ein Plenum, in das ich mich ein­klinke, kaum dass ich meine Sachen abgestellt habe; dort viele liebe, lang nicht gese­hene Fre­unde aus anderen Teilen Deutsch­lands, die ich später rund um die Esse­naus­gabe tre­ffe. Der Abend klingt aus mit ein­er kohlekri­tis­chen The­at­er­auf­führung der Berlin­er Com­pag­nie und einem Konz­ert vom Geigerzäh­ler. Es ist ein schön­er Tag, der so aber auch in anderen Jahren an anderen Orten stat­tfind­en könnte.
Am Don­ner­stag verän­dert sich etwas Entschei­den­des und ich, beschäftigt mit meinen Auf­gaben auf dem Camp, bemerke es lange nicht. Dann kommt der Don­ner­stagabend, die Arbeit ist getan, ich streife durch das zen­trale Are­al und kann die beina­he schon elek­trische Span­nung förm­lich knis­tern hören, die hier zwis­chen den Men­schen über­springt. Es ist nur die bloße Zahl der Anwe­senden, die sich über den Tag enorm gewach­sen ist, es ist eine andere Qual­ität, ein andere Form von Zusam­men­sein. In Erwartung des gemein­samen massen­haften Auf­bruchs am näch­sten Tag teilen prak­tisch Alle eine nervöse, aufgekratzte Anspan­nung miteinan­der, ganz egal ob man in der Dunkel­heit noch Strohsäcke stopft und Over­alls besprüht, die in weni­gen Stun­den in der Grube zum Ein­satz kom­men wer­den, oder ob man um Tis­che und auf der Wiese sich in Grup­pen ver­sam­melt. Dazu kommt das eher leise, manch­mal laute, fortwährende Gewirr und Gemurmel der vie­len Stim­men, die Vielfalt der Sprachen. Es sind viele Men­schen aus Großbri­tan­nien und Frankre­ich, Bel­gien und den Nieder­lan­den aber auch aus Spanien, Däne­mark, Schwe­den, Polen, der Tschechei und der Ukraine, aus der Türkei und selb­st Südafri­ka gekom­men. Am Rand eines kleinen, bedro­ht­en Dorfs in der Nieder­lausitz, dessen Exis­tenz den Aller­meis­ten vor kurzem noch völ­lig unbekan­nt gewe­sen sein dürfte, teilt uns alle die Erfahrung, von etwas ergrif­f­en zu sein, was uns unbe­d­ingt ange­ht, für das wir kämpfen wollen und das uns an diesem Abend über alle Sprach- und Erfahrungs­gren­zen hin­weg in ein­er fieber­haften Span­nung miteinan­der verbindet. Es ist, zeitlich beina­he per­fekt passend, genau diese Erfahrung, die auch in der Erzäh­lung vom Pfin­gst­wun­der auf­scheint: „Und als der Pfin­gst­tag gekom­men war, waren sie alle an einem Ort beieinan­der. Und es geschah plöt­zlich ein Brausen vom Him­mel wie von einem gewalti­gen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zun­gen, zerteilt wie von Feuer; und er set­zte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wur­den alle erfüllt von dem Heili­gen Geist und fin­gen an zu predi­gen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszus­prechen […] Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusam­men und wurde bestürzt; denn ein jed­er hörte sie in sein­er eige­nen Sprache reden. Sie entset­zten sich aber, ver­wun­derten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jed­er seine eigene Mut­ter­sprache? […] Sie entset­zten sich aber alle und wur­den rat­los und sprachen ein­er zu dem andern: Was will das wer­den?“ (Apg 2, 1–13)
Es ist diese Erfahrung von Gemein­samkeit und Kollek­tiv­ität, die wohl dem entspricht, was für die Arbeit­er­be­we­gung des 19. Jahrhun­derts die Fab­rik, der Streik, die Nach­barschaft war und was im neolib­eralen Sta­di­um des Kap­i­tal­is­mus mit der Atom­isierung der Men­schen immer mehr ver­schwindet. Das macht solche Erfahrun­gen umso wertvoller, zu gle­ich aber auch begren­zt. Denn wenn die Erfahrung kämpferisch­er Kollek­tiv­ität haupt­säch­lich bei solchen Anlässen und nicht mehr in der eige­nen All­t­agswirk­lichkeit gemacht wird, dro­ht linke Poli­tik entwed­er zum Bewe­gungs-hop­ping oder zur Frus­tra­tions­maschiene mit solchen Aktio­nen als bloßem Akku-aufladen zu werden.
Begren­zt ist die Bewe­gung auch noch in eine andere Rich­tung. Selb­st wohlwol­lend geschätzt sind 80% der Anwe­senden angereist, jung, weiß, gebildet und leben in ein­er Stadt. Das ist eine Gren­ze und ein Prob­lem das wir haben, sollte aber nicht in Selb­stver­dammung und Star­ren auf ein imag­iniertes rev­o­lu­tionäres Sub­jekt führen. Jede Bewe­gung ist nur ein Auss­chnitt der Gesamt­ge­sellschaft und organ­isiert daher bes­timmte soziale Grup­pen. Die klas­sis­che Arbeit­er­be­we­gung hat nie „die“ Arbeit­er organ­isiert, son­dern war im Kern immer eine Bewe­gung der qual­i­fizierten Arbeit­er­schaft, die die Kämpfe der Ungel­ern­ten, der Lan­dar­beit­er, der vagabundieren­den Arbeit­er, der Heimar­bei­t­erIn­nen u.v.a.m, falls sie sie über­haupt wahrgenom­men hat, nur punk­tuell in die eigene Bewe­gung inte­gri­eren kon­nte. Vielle­icht wäre manche Nieder­lage ver­mei­d­bar gewe­sen, wenn es ihr gelun­gen wäre – an ihrer Rolle als wichtigem Sub­jekt von Emanzi­pa­tion ändert das nichts. Bezo­gen auf Ende Gelände ist daher nicht nur die Frage inter­es­sant, wer nicht kommt, son­dern warum ger­ade die Grup­pen kom­men, die da sind. Was ist ihr gesellschaftlich­er Ort, welche Erfahrun­gen brin­gen sie mit, wie ist ihr Ver­hält­nis zu den Wider­sprüchen unser­er Zeit, welche Bedeu­tung haben sie in der gesellschaftlichen Pro­duk­tion des Reichtums?
Auf­brüche
Das Über­raschend­ste am Fre­itag war dann die Abwe­sen­heit von Über­raschun­gen. Die Kohle­grube war von Vat­ten­fall still­gelegt und den Massen über­lassen wur­den, damit sie sich darin tot­laufen. Außer Sym­bol­bildern, die in ihrer beein­druck­enden Sci­ence-Fic­tion-Ästhetik von den Bildern des let­zten Jahres kaum zu unter­schei­den sind, war hier nichts zu holen. Der wirk­liche Kon­flikt wurde Sam­stag und Son­ntag an den Schienen und im Kraftwerk ausgetragen.
Es ist Sam­stagvor­mit­tag. Auf einem abgemäht­en Feld hin­ter dem Camp sam­melt sich ein­er der Fin­ger, um sich auf den Weg Rich­tung Schiene zu machen. Die große Menge ste­ht auf dem weit­en Feld unter blauen Him­mel zusam­men, ein­heitlich in weiße Over­alls gek­lei­det, geschlossen, entschlossen. Man zieht in eine Schlacht und ist bere­it dafür, ist zur richti­gen Zeit am richti­gen Ort um den Kämpfen um Befreiung ein neues, gemein­sames Kapi­tel hinzuzufü­gen. Die Stim­mung ist entsprechend gut, wenn auch nicht frei von Anspan­nung, von entschlossen­er Aufgekratztheit. Auch wenn es weniger Leute sind als 2007, erin­nert mich die ganze Auf­bruch­stim­mung sehr an die G8 Proteste in Heili­gen­damm, manch ein­eR dürfte so alt sein wie ich damals.
Meine Gedanken gehen aber bald noch weit­er zurück, zu den kahlen Hügeln über Franken­hausen, wo sich im Mai 1525 Bauern, Handw­erk­erge­sellen und weit­ere Grup­pen zu ein­er anderen Schlacht sam­meln, die eine entschei­dende Wen­dung im Bauernkrieg markieren wird. Wie weit herge­holt das ist, wird mir schon im Moment klar, wo ich das denke. Die Kämpfe damals dreht­en sich um den Zugang zu Natur­res­sourcen wie Wälder und Wiesen, um Aus­beu­tungs­for­men wie die Leibeigen­schaft, um kom­mu­nale Selb­stver­wal­tung, nicht zulet­zt um religiöse Autonomie. Sie standen am Anfang des Kap­i­tal­is­mus, der sich anschick­te, tradierte Ver­hält­nisse umzuwälzen. Und ende­ten in einem unvorstell­baren Blut­bad, als die Her­ren in Minuten Tausende morde­ten und die Hügel blutrot färbten. Fünfhun­dert Jahre späte kämpfen andere Men­schen in anderen Ver­hält­nis­sen. Wir sind mit­tler­weile in einem späten Sta­di­um des Kap­i­tal­is­mus angekom­men, in einem Jahrhun­dert, in dem es entschei­dend darum gehen wird, ob die kap­i­tal­is­tisch organ­isierte Men­schheit die biol­o­gis­chen Grund­la­gen ihres Über­lebens schw­er schädi­gen oder gar ver­nicht­en wird. Hier wo wir kämpfen richt­en die Herrschen­den vor­erst keine Blut­bäder mehr an, auch wenn manche die hier auf­brechen in den näch­sten Stun­den Ver­let­zun­gen und Mis­shand­lun­gen erfahren wer­den. Und den­noch, weil sich die Geschichte weit­erge­dreht hat, nicht weil sie ste­henge­blieben ist, weil sich auf den Gräbern der geschla­ge­nen Auf­ständis­chen der Kap­i­tal­is­mus ent­fal­ten kon­nte, die Wider­sprüche kap­i­tal­is­tis­ch­er Herrschaft sich anders stellen als vor fünfhun­dert Jahren, und weil trotz­dem und deswe­gen wieder Men­schen voll Zuver­sicht auf­brechen, für etwas was bei aller Vagheit und Het­ero­gen­ität Befreiung heißen kann und muss zu kämpfen, deshalb lässt sich das tief ergreifende Gefühl, dass hier etwas ein­gelöst wird, was vor Franken­hausen geschla­gen wurde, trotz allem Ratio­nal­isieren nicht abwehren. „Die Ver­gan­gen­heit führt einen heim­lichen Index mit, durch den sie auf die Erlö­sung ver­wiesen wird. Streift denn nicht uns sel­ber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewe­sen ist? ist nicht in Stim­men, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun ver­s­tummten? haben die Frauen, die wir umwer­ben, nicht Schwest­ern, die sie nicht mehr gekan­nt haben? Ist dem so, dann beste­ht eine geheime Verabre­dung zwis­chen den gewe­se­nen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet wor­den.“ (Wal­ter Ben­jamin, 2. Geschicht­sphilosophis­che These)
Ich denke auch an das Ver­hält­nis von Bewe­gung und Anführern, dass damals ein gefährlich­es war und es heute noch ist. Und das ger­ade ‚weil heute die Anführer*innen schw­er auszu­machen sind, weil es so viel Raum für Spon­tan­ität und Mitbes­tim­mung gibt, dass schnell überse­hen wer­den kann, dass das alles in einem Rah­men stat­tfind­et, den wenige bes­timmt haben. Weil es eine Hand­lungsan­weisung gibt, die „Aktion­skon­sens“ heißt, obwohl ihn eine Min­der­heit aus­disku­tiert hat und ihn viele eher vom Hören­sagen ken­nen. Beze­ich­nend die Frage in der Ver­samm­lung Fre­itagabend, ob denn Schot­tern Teil des Aktion­skon­sens sei. Es gibt zwis­chen den Anwe­senden nicht­mal den Ansatz ein­er Diskus­sion über den poli­tis­chen Sinn und Unsinn der Aktions­form, son­dern von der Bühne die lap­i­dare Mit­teilung: „Wir“ (?) haben schw­eren Herzens entsch­ieden – nein. Wir (ein anderes wir) witzeln: Hof­fentlich kommt die Jus­tiz nicht auf die Idee, die Strafver­fahren gegen unsere Bewe­gung Strafkon­sens zu nen­nen. Denn son­st wür­den unsere Leute kooperieren – schließlich haben sie ja eingewilligt.
Der trock­ene Spott und Frust der Nacht zuvor ist schnell vergessen, als am näch­sten Tag der Zug über das Feld zieht und aus meinem Blick­feld ver­schwindet. Soviel eigen­er Mut, eigene Entschlossen­heit, eigene Kreativ­ität und eigene Begeis­terung liegt in der Luft, dass men­sch die Frage, ob die sich befreien­den Men­schen hier wirk­lich das Maß aller Dinge sind, schnell mit einem Ja beant­worten möchte. Vielle­icht zu schnell.
Licht und Schatten
Es ist Sam­stagabend und es sieht nicht gut aus. Eine Per­son sitzt für wenig­stens einen Monat in U‑Haft und falls Staat­san­waltschaft und Gericht ihre Lin­ie durch­hal­ten, kön­nten es erhe­blich mehr wer­den. Darunter auch enge Fre­unde von mir, die mor­gen ihren Haft­prü­fung­ster­min haben sollen. Meine Ner­ven liegen blank. Wir sitzen etwas abseits auf der Wiese und ver­suchen zusät­zliche Anwälte zu erre­ichen, was an einem Sam­stagabend schwierig ist. Unsere Anspan­nung ist groß. Hin­ter uns im Zirkuszelt strö­men die von den Gleis­block­aden zurück­gekehrten Men­schen zusam­men. Die Stim­mung dort ist aus­ge­lassen. Abgeschnit­ten vom Braunkohle­nach­schub musste das Kraftwerk Schwarze Pumpe bis kurz vor die Abschal­tung gedrosselt wer­den, Protestierende haben das Kraftwerks­gelände geen­tert und noch ist unsere Aktion nicht vor­bei. Wir sind eine Macht und kon­nten der tagtäglichen Ver­nich­tung unser­er Lebens­grund­la­gen zumin­d­est eine Irri­ta­tion bere­it­en, die zu den größten Erfol­gen der zeit­genös­sis­chen europäis­chen Umwelt­be­we­gung zählt. Jubel dringt immer wieder an unser Ohr. So ange­bracht er ist, so sehr ste­ht er im Kon­trast zu unseren Sor­gen und der beschisse­nen Sit­u­a­tion der Leute, die die Nacht auf den Cot­tbuser Polizeire­vieren ver­brin­gen müssen. Über den Feldern der Lausitz zeigt sich ein prächtiger Son­nenun­ter­gang, eine Fle­d­er­maus kreist über unseren Köpfen, ein Maikäfer fliegt durchs Bild. Es ist diese Gle­ichzeit­igkeit, die sich schw­er aushal­ten lässt.
Manche sind nach diesen Tagen emo­tion­al schw­er angeschla­gen von dem, was sie in der Kon­fronta­tion mit der Herrschaft erfahren mussten. Es bleibt zu hof­fen, dass die Men­schen um sie herum für sie sor­gen wer­den. Andere steck­en die Zumu­tun­gen mit ein­er Gewandtheit weg, die mich tief beein­druckt und mit freudi­ger Über­raschung zurück­lässt. Aus ihnen spricht die Kraft und Würde, die das gemein­same Auf- und Wider­ste­hen den Men­schen ver­lei­ht. Die Erin­nerung an zwei Frauen hat sich mir nach­drück­lich einge­bran­nt. Die eine ließ sich berat­en, welche Gefahren ein Strafver­fahren für ihr Visum für Deutsch­land bedeuten würde. Schließlich lachte sie und meinte nur „Na, dann muss mich eben ein­er von meinen deutschen Fre­un­den heirat­en.“. Und meinte das genau so. Die zweite ruft am Son­ntag an. Sie liegt im Kranken­haus, ihr Arm ist ver­let­zt, ihre Leute sollen sie abholen. Nein, Sor­gen brauchen sie sich nicht zu machen. Ihre Stimme ist ruhig, gefasst und entspan­nt, fast schon etwas schläfrig. Ihr ist vielle­icht Furcht­bares passiert, aber wer sie jet­zt hört weiß: Es ist über­standen. Keine Macht der Welt kann ihr dieses es-über­standen-haben jet­zt mehr nehmen. Auch nicht die Lausitzer Rund­schau, auf deren näch­ster Num­mer eine Über­schrift von gewalt­täti­gen Braunkohlegeg­n­ern prangen wird, ohne das ihr ein einziger Ver­let­zter in den Rei­hen unser­er Geg­n­er bekan­nt ist.
Was bleibt?
Der Son­ntagabend endet in ver­bre­it­eter Euphorie und Aus­ge­lassen­heit. Meine nun doch in die Frei­heit ent­lasse­nen Fre­unde wiederzutr­e­f­fen, während hin­ter uns im all­ge­meinen Freuden­taumel getrom­melt und getanzt wird, erin­nert mich sehr an das Ende der „Rück­kehr der Jedi-Rit­ter“, obwohl das Imperi­um nicht geschla­gen ist und auch seine Macht, einen ganzen Plan­eten zu ver­nicht­en, nicht einge­büßt hat. Eine sehr viel kleinere Gruppe Ein­heimis­ch­er und Angereis­ter feiert Pfin­gst­mon­tag bei ein­er Andacht in Proschim weit­er. Hier kommt noch ein­mal zur Sprache, was mir die let­zten Tage immer wieder auffiel: Die gemein­same Kraft, das zusam­men Ergrif­f­en­sein im Kampf für etwas, was hier sehr schön als ein „Leben Aller Men­schen in Fülle und Würde“ umschrieben wird. Eine Min­der­heit ver­ste­ht es als Teil und Aus­druck ihres christlichen Glaubens, die Gemein­samkeit unser­er Erfahrung reicht aber weit über diese Gruppe hinaus.
Wer sich in diesem Teil der Lausitz aufmerk­sam umsieht, wird auf den Feldern die für den Braunkohle­tage­bau benötigten Entwässerungs­brun­nen ent­deck­en. Wirft man einen Stein in die rot-weißen Röhren hinein, braucht er drei, vier, fünf oder noch mehr Sekun­den, bis er tief, tief unter den eige­nen Füßen platschend ins Wass­er fällt. Ein solch­es unter der Ober­fläche ver­bor­genes Poten­tial ist dieses Pfin­g­sten in unser­er gemein­samen Erfahrung aufgeleuchtet. Wir sind weit davon ent­fer­nt, die Ver­hält­nisse zu rev­o­lu­tion­ieren und viele Fra­gen, wie die nach dem Ver­hält­nis zu Kap­i­tal und Staat, sind für die Bewe­gung offen geblieben. Und den­noch, in unserem gemein­samen Schritt scheint die Ahnung auf, dass nichts bleibt wie es ist, dass sich alles ändern kann, muss und wird.
Keine Atem­pause – Geschichte wird gemacht – es geht voran!
Schreibt den Gefangenen!

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Antifaschismus Law & Order

Aufklärung ohne politische Rücksichtnahmen!

Res­o­lu­tion des Aktions­bünd­niss­es zum anste­hen­den NSU-Unter­suchungsauss­chuss im Bran­den­burg­er Land­tag: Akten müssen bere­it gestellt, Kon­se­quen­zen gezo­gen wer­den. Zudem: Audio-Mitschnitt der Podi­ums­diskus­sion zum Thema.
Die Mit­glieder des Aktions­bünd­niss­es haben bei ihrem 47. Plenum am 25. April 2016 im Haus der bran­den­bur­gisch-preußis­chen Geschichte in Pots­dam eine Res­o­lu­tion ver­ab­schiedet. For­muliert sind dort Erwartun­gen in Rich­tung des anste­hen­den par­la­men­tarischen Kon­trol­lauss­chuss­es zu den Bran­den­burg­er Ver­strick­un­gen in die NSU-Ver­brechen. Die Res­o­lu­tion im Wortlaut:
Das lan­desweite Aktions­bünd­nis gegen Gewalt, Recht­sex­trem­is­mus und Frem­den­feindlichkeit begrüßt, dass im Bran­den­burg­er Land­tag endlich ein Unter­suchungsauss­chuss zum NSU-Kom­plex ein­gerichtet wer­den soll.
Wir ver­lan­gen eine umfassende Aufk­lärung ohne poli­tis­che Rücksichtnahmen.
Die gesamte Geschichte der mil­i­tan­ten Neon­azi-Organ­isierung in Bran­den­burg und das damit verknüpfte V‑Leute-Sys­tem müssen aufgear­beit­et und es müssen aus dieser Aufar­beitung Kon­se­quen­zen gezo­gen werden.
Viele der zu beant­wor­tenden Fra­gen sind im Buch „Gen­er­a­tion Hoy­er­swer­da“ bere­its aufgezeigt worden.
Die lück­en­lose Bere­it­stel­lung von Akten wird der Gradmess­er sein, um einen tat­säch­lichen behördlichen Aufk­lärungswillen anerken­nen zu können.

Im Anschluss an das Plenum fand eine Podi­ums­diskus­sion statt, die den Titel „Neon­azis, NSU und V‑Leute: Wie klärt Bran­den­burg auf?“ trug. Vertreterin­nen und Vertreter der Bran­den­burg­er Lan­despoli­tik disku­tierten vor rund 160 Zuhörerin­nen und Zuhör­ern mit Mod­er­a­torin Tat­jana Jury, Petra Pau (Obfrau Die Linke im NSU-Unter­suchungsauss­chuss des Bun­destages), Uli Grötsch (Obmann SPD im NSU-Unter­suchungsauss­chuss des Bun­destages) und Anto­nia von der Behrens (Neben­klagev­ertreterin NSU-Prozess). Eine Audioaufze­ich­nung der Diskus­sion kann überSound­cloud nachge­hört werden.
 

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(Anti-)Rassismus Flucht & Migration Law & Order

Richtungswechsel im Brandenburger Innenministerium

Innen­min­is­ter Schröter hat für zwei Fam­i­lien aus Forst und Pots­dam trotz hun­dert­er Unter­schriften, Briefe und Stel­lung­nah­men die Ersuchen der Härte­fal­lkom­mis­sion abgelehnt. Bei­de Fam­i­lien – Roma aus Ser­bi­en – sind bestens inte­gri­ert und in der hiesi­gen Gesellschaft verankert.
Mitschü­lerIn­nen, LehrerIn­nen, Nach­barIn­nen, Kirchen­mit­glieder und Bürg­erIn­nen aus Forst und Pots­dam haben sich geäußert und eingemis­cht. Alle appel­lieren, den Fam­i­lien ein dauer­haftes Bleiberecht zu gewähren. Es sind die Stim­men aus der Zivilge­sellschaft – oft von der Lan­desregierung für ihre engagierte Arbeit mit Geflüchteten gelobt – die hier über­gan­gen und offen­bar nicht gehört wer­den, wenn es um das Aufen­thalt­srecht geht.
Stattdessen liegt der Entschei­dung des Innen­min­is­ters ganz offen­sichtlich zugrunde, dass bei­de Fam­i­lien eine in seinen Augen zu kurze Aufen­thalt­szeit hät­ten und aus Ser­bi­en kom­men und damit aus einem so genan­nten sicheren Herkun­ft­s­land. Damit führt der Innen­min­is­ter die Arbeit der Härte­fal­lkom­mis­sion ad absur­dum. Migra­tions- und ord­nungspoli­tis­che Erwä­gun­gen, die aktuellen bun­des­ge­set­zlichen Asyl­rechtsver­schär­fun­gen zugrunde liegen, dürften die Arbeit der Härte­fal­lkom­mis­sion nicht berühren. Die bun­desrechtlichen Ver­schär­fun­gen im Hin­blick auf die sicheren Herkun­ft­slän­der zie­len pauschal auf schnellere Abschiebun­gen ganz­er Grup­pen, während es Auf­gabe der Härte­fal­lkom­mis­sion ist, den Einzelfall unab­hängig von Herkun­ft und Aufen­thalts­dauer zu betra­cht­en und zu erörtern.
Mit seinen Entschei­dun­gen, im Fall von Men­schen aus sicheren Herkun­ftsstaat­en gegen die Kom­mis­sion zu stim­men, kon­terkari­ert der Innen­min­is­ter die Arbeit der Härte­fal­lkom­mis­sion und stellt sie somit grund­sät­zlich in Frage. Men­schen aus sicheren Herkun­ftsstaat­en kön­nen in der Regel gar keine lange Aufen­thalt­szeit in Deutsch­land haben. Umso beachtlich­er ist es, wenn sie in dieser ver­gle­ich­bar kurzen Zeit eine starke Ver­ankerung in der örtlichen Gesellschaft erre­ichen. Insofern kann auch bei ihnen in ein­er kurzen Zeit ein beson­der­er Härte­fall vor­liegen, der für eine Aufen­thalts­gewährung rel­e­vant wäre.
Es geht bei den Über­legun­gen der Härte­fal­lkom­mis­sion wed­er um den Herkun­ftsstaat noch um Aufen­thalt­szeit­en, son­dern um das per­sön­liche Schick­sal der Men­schen. Wird dies bei Men­schen aus sicheren Herkun­ftsstaat­en nicht beachtet, wird ihnen grund­sät­zlich die Einzelfall­prü­fung im Härte­fal­lver­fahren ver­wehrt. Das wider­spricht dem auf dem human­itären Einzelfall basieren­den Ansatz der Härtefallkommission.
Trotz rel­a­tiv kurz­er Aufen­thalts­dauer von zwei bzw. drei Jahren haben es die Fam­i­lien Novakovi? und Brki? in außergewöhn­lich­er Weise geschafft, aktive Mit­glieder der örtlichen Gesellschaft zu wer­den. Sie sind beruf­stätig, ehre­namtlich aktiv, dol­metschen und unter­stützen andere Geflüchtete. Sie sind Mit­glieder im Sportvere­in und interkul­turellen Ini­tia­tiv­en, die Kinder der Fam­i­lie Novakovi? sind in der Schule längst inte­gri­ert und gehen erst­mals gern und mit einem Gefühl der Sicher­heit zur Schule. Bei­de Fam­i­lien haben zahlre­iche Unter­stützerIn­nen, Fre­undIn­nen und Nach­barIn­nen gewon­nen, die sie unter­stützen und nun gegen die Entschei­dung des Min­is­ters protestieren.
Vor diesem Hin­ter­grund ist es absurd, dass kurz nach Ende der “Dekade der Romain­klu­sion”, in der sich die Europäis­che Union mit ver­schiede­nen Pro­gram­men um die Inklu­sion von Roma bemüht hat, Kinder, die sich hier bestens in Schulleben und Kita inte­gri­ert haben, in die Per­spek­tivlosigkeit abgeschoben wer­den sollen – mit der Folge, eine Schule nicht mehr besuchen zu können.
Mit sein­er Gut­sher­re­nart wis­cht der Innen­min­is­ter die Inte­gra­tions­be­mühun­gen zahlre­ich­er Men­schen ein­fach zur Seite und stellt sich für die vie­len höflichen, aber auch fas­sungslosen Briefe von Ehre­namtlichen, LehrerIn­nen, Arbeit­ge­berIn­nen, Fre­undIn­nen und Nach­barIn­nen taub. Ein­er­seits posi­tion­iert er sich gegen rechte Über­griffe, ander­er­seits tor­pediert er die Arbeit eben jen­er Men­schen, die sich im Land Bran­den­burg gegen Rechts und für die Auf­nahme von Flüchtlin­gen engagieren und häu­fig das Boll­w­erk gegen rechte Het­ze vor Ort bilden. So kann keine Inte­gra­tion geflüchteter Men­schen gelin­gen, so wird ein grund­falsches Sig­nal in die Gesellschaft gesendet.
Wir fordern die Lan­desregierung und den Innen­min­is­ter auf, den Fam­i­lien Novakovi? und Brki? ein dauer­haftes Bleiberecht zu gewähren und sie nicht aus dem Kreis ihrer neuen Fre­undIn­nen und Nach­barIn­nen zu reißen.
Die Kinder dür­fen nicht aus der Schule bzw. Kita und ihrem gewohn­ten Umfeld genom­men und dahin abgeschoben wer­den, wo sie wieder Diskri­m­inierung und Anfein­dun­gen aus­ge­set­zt wären.
Wir fordern eine vor­be­halt­lose Prü­fung des human­itären Einzelfalls in der Härte­fal­lkom­mis­sion, unab­hängig von Herkun­ftsstaat und ord­nungspoli­tis­chen Überlegungen.

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(Anti-)Rassismus Antifaschismus Law & Order

Rechte Allianz im Havelland: Das “Bürgerbündnis Deutschland”

Seit dem Herb­st 2015 macht sich die Kle­in­stadt Rathenow im Havel­land einen Namen als „Klein-Dres­den“. Das liegt nicht etwa an den vie­len malerischen Brück­en. Nein, seit Okto­ber 2015 demon­stri­ert hier im Pegi­da-Stil eine Mis­chung aus „besorgten Bürg­ern“ und Neon­azis regelmäßig. Wöchentlich bis zu 600 von ihnen – angesichts der rund 24.000 Ein­wohn­er Rathenows eine beachtliche Zahl. Die Organ­isatoren des „Bürg­er­bünd­nis Havel­land“ weisen eine Nähe zu Recht­sex­trem­is­ten von sich – eine absurde Behaup­tung, nicht zulet­zt auf­grund ihrer Kon­tak­te zu den mut­maßlichen Ter­ror­is­ten um den NPD-Mann Maik Schnei­der aus Nauen.

Von Oliv­er Saal

Das "Bürgerbündnis Deutschland" mobilisiert bürgerliche Flüchtlingsfeinde und Neonazis gleichermaßen. Wie sind seine Organisatoren einzuschätzen?

Das “Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land” mobil­isiert bürg­er­liche Flüchtlings­feinde und Neon­azis gle­icher­maßen. Wie sind seine Organ­isatoren einzuschätzen?

Wer organisiert das „Bürgerbündnis Havelland“?

Seit Mitte Okto­ber 2015 kur­sierte auf Face­book ein Fly­er, der mit „Bürg­er­bünd­nis Havel­land gegen Asylmiss­brauch“ unter­schrieben war. Ana­log zu „Pegi­da“ wurde darin zu ein­er Kundge­bung auf dem zen­tral gele­ge­nen Märkischen Platz in Rathenow aufgerufen, die sich gegen die „Islamisierung des Abend­lan­des“ wen­den und die „kon­se­quente Abschiebung“ abgelehn­ter Asyl­be­wer­ber fordern wollte. Die Organ­isatoren hat­ten mit ihrem Aufruf schein­bar einen Nerv getrof­fen: Es kamen tat­säch­lich 500 Men­schen zusam­men. In Rathenow gab es somit auf einen Schlag die zahlen­mäßig größte flüchtlings­feindliche Kundge­bung im Land Bran­den­burg. Kein Wun­der, dass sich die Organ­isatoren von dieser Res­o­nanz bestärkt fühlten und for­t­an im Zwei-Wochen-Rhyth­mus Kundge­bun­gen anmeldeten.


Nico Tews und Chris­t­ian Kaiser vom “Bürg­er­bünd­nis Havel­land”. Foto: Press­eser­vice Rathenow

Gegenüber der Öffentlichkeit dis­tanzierten sich die bei­den Organ­isatoren, Nico Tews und Chris­t­ian Kaiser, von jeglich­er recht­sex­tremer Mitwirkung an ihren Demos. Sie behaupteten gegenüber der Märkischen All­ge­meinen Zeitung allen Ern­stes, „die Aus­sage, wir wür­den von der NPD Unter­stützung bekom­men, ist falsch. Wir erhal­ten von dieser Partei keine finanzielle Unter­stützung, Mit­glieder der NPD sind bei uns keine Ord­ner und sie gehören nicht zu den Mitwirk­enden.“ Und über­haupt: „Wir hal­ten uns fern von Rechtsextremisten.“

So deut­lich diese Dis­tanzierung klingt, so falsch ist sie auch und so zweifels­frei lässt sie sich wider­legen. Ganz abge­se­hen davon, dass inhaltlich zwis­chen die NPD und die Ver­anstal­tun­gen des Bünd­niss­es kein Blatt Papi­er passt: Chris­t­ian Kaiser, ein­er der bei­den Organ­isatoren, hat bei Face­book Seit­en der recht­sex­tremen NPD und NPD-naher „Nein zum Heim“-Seiten gelikt und pflegt in dem sozialen Net­zw­erk Fre­und­schaften mit Neon­azis, die SS-Runen und Hak­enkreuze auf ihren Pro­fil­bildern zeigen. Das bele­gen Screen­shots von seinem Pro­fil, die das “Anti­Ra Redak­tion­skomit­tee” (Link zur Broschüre im pdf.-Format) zusam­menge­tra­gen hat. Zahlre­iche Bilder von Foto­jour­nal­is­ten bele­gen außer­dem die Teil­nahme von region­al bekan­nten Neon­azis an den Kundge­bun­gen – nicht zulet­zt auch als Ord­ner. Der von Tews und Kaiser ini­ti­ierte Zusam­men­schluss „Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land“ stellt ein Bünd­nis zwis­chen flüchtlings­feindlichen Grup­pen, offen Recht­sex­tremen und NPD-Vor­fel­dor­gan­i­sa­tio­nen dar. Und: Der mut­maßliche Brand­s­tifter und NPD-Poli­tik­er Maik Schnei­der aus Nauen unter­stützte die Ver­anstal­tun­gen nach­weis­lich und mit dem Wis­sen der Organ­isatoren. Gegen ihn und vier Mit­stre­it­er wird zurzeit wegen des Ver­dacht­es auf Bil­dung ein­er ter­ror­is­tis­chen Vere­ini­gung ermit­telt – er sitzt in Haft.

Das „Bürgerbündnis Deutschland“ als Netzwerk rechtsextremer Flüchtlingsfeinde

Schon vor dem ersten Auf­marsch des „Bürg­er­bünd­nis Havel­land“ waren die bei­den Organ­isatoren Tews und Kaiser bestrebt, sich mit weit­eren flüchtlings­feindlichen Organ­i­sa­tio­nen zu ver­net­zen. An einem Auf­marsch der ver­gle­ich­baren „Bürg­er­be­we­gung Alt­mark“ am 26. Okto­ber 2016 in Sten­dal nah­men die bei­den als Ord­ner teil und riefen über die Laut­sprecher­an­lage zur Teil­nahme an ihrer Rathenow­er Ver­samm­lung auf. An dem Auf­marsch beteiligten sich außer­dem der Vor­sitzende des NPD Kreisver­ban­des Alt­mark, Sebas­t­ian Klein, Sten­daler Sympathisant_innen von „Die Rechte“, „Autonome Nation­al­is­ten“ aus Sten­dal und Anhänger_innen der „Iden­titären Bewegung“.

Bei den Rathenow­er Kundge­bun­gen im Herb­st und Win­ter 2015/2016 wur­den immer wieder ein­schlägig bekan­nte Neon­azis als Ord­ner einge­set­zt. Bei der Kundge­bung am 10. Novem­ber 2015, nur eine Woche nach dem ein­gangs erwäh­n­ten Inter­view mit der MAZ, wurde wieder auf bekan­nte und zum Teil wegen Gewalt- und Pro­pa­gan­dade­lik­ten vorbe­strafte Neon­azis zurück­ge­grif­f­en. Auch der Rathenow­er Neon­azi Thomas L. kam als Ord­ner zum Ein­satz. Von ihm existieren Auf­nah­men in Parteik­luft der NPD und er nahm in den ver­gan­genen Jahren an zahlre­ichen Nazi­aufmärschen der Region teil. Von seinen poli­tis­chen Überzeu­gun­gen wie auch seinem musikalis­chen Tal­ent kann sich jed­er, der es aushält, überzeu­gen: L. fir­miert als Lie­der­ma­ch­er unter dem Pseu­do­nym „TO!tonicus“ in den sozialen Net­zw­erken. Auf sein­er Face­book-Fan­seite teilt er auch Artikel, die den Holo­caust als jüdis­che Erfind­ung darstellen. Sein biederes Liedgut über Volk und Heimat durfte der Teu­tone eben­falls auf ein­er Ver­anstal­tung von Kaiser und Tews zum Besten geben: Am 6. März 2016, auf ein­er Kundge­bung des eben­falls von Kaiser und Tews ini­ti­ierten „Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land“ in Rathenow.


Screen­shot: youtube.com

Am 24. Novem­ber 2015 warb Organ­isator und Dauerred­ner Chris­t­ian Kaiser auf ein­er Rathenow­er Kundge­bung für das neurechte Ver­net­zung­spro­jekt „Ein­prozent“. Die neurecht­en Agi­ta­toren um Götz Kubitschek und Jür­gen Elsäss­er ent­blö­den sich nicht, für ihr Pro­jekt als „eine Art Green­peace für Deutsche“ zu wer­ben: Die „Flüchtlingsin­va­sion“ sei eine Katas­tro­phe für Deutsch­land. Es würde jedoch genü­gen, wenn nur ein Prozent der Bevölkerung des Lan­des poli­tisch für das Pro­jekt aktiv wür­den, um einen grundle­gen­den Poli­tik­wan­del einzuleit­en. Auf den Kundge­bun­gen des „Bürg­er­bünd­nis“ fand sich häu­fig ein Trans­par­ent mit dem Auf­druck „einprozent.de“ – genau wie auf dem T‑Shirt, das Kaiser auf seinem Face­book-Pro­fil­fo­to trägt.

Ganz im Sinne der Idee der „Ein­prozenti­gen“ ini­ti­ierte Nico Tews Anfang Dezem­ber die Grün­dung des „Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land“. Es han­delt sich dabei um einen Zusam­men­schluss, mit­tels dem Tews sein „Bürg­er­bünd­nis Havel­land“ mit anderen flüchtlings­feindlichen Grup­pen aus Bran­den­burg und Sach­sen-Anhalt ver­net­zt. Der über­wiegende Teil dieser „Bürg­er­be­we­gun­gen“ und „-bünd­nisse“ lässt sich ein­deutig dem recht­sex­tremen Milieu zuord­nen. Der Rathenow­er Strip­pen­zieher Nico Tews ist laut denic.de-Abfrage Inhab­er der Inter­net-Domain des neuen Bündnisses.

Die weit­eren Beteiligten:

  • Bürg­er­be­we­gung Alt­mark“: Ein Organisator_innenkreis aus dem Land­kreis Sten­dal um Mar­tin K., der zuerst bei MAGIDA in Magde­burg aktiv gewe­sen ist.
  • Abendspazier­gang Oranien­burg“: Ein Pro­jekt des NPD-Kreisver­ban­des Ober­hav­el und sein­er Kam­pagne „Nein zum Heim in Oranienburg“
  • PEGIDA Havel­land“: Die Gruppe führt eigene Ver­samm­lun­gen in Schön­walde-Glien durch, die sich eben­falls gegen eine in Pla­nung befind­liche Flüchtling­sun­terkun­ft richten.
  • Asyl­hütte in Ket­zin? Kannste knick­en 2.0): Die führen­den Köpfe dieser Gruppe gehören zu der Neon­azi­gruppe „Freie Kräfte Neuruppin“
  • Gen­thin wach auf (Bürg­er­be­we­gung Gen­thin): Die Gruppe ist eng an die Neon­azi-Klein­partei „Der III.Weg“ gekoppelt
  • Werder wach auf“: Bish­er nur im Inter­net aktiv, keine Erken­nt­nisse über ihre Initiatoren
  • Burg gegen Asylmiss­brauch“: Hier ziehen Aktive der Neon­azi-Klein­partei „Die Rechte“ die Fäden

Eine Doku­men­ta­tion der von den jew­eili­gen Einzel­grup­pen durchge­führten Aktio­nen und ihrer Verbindun­gen ins offen recht­sex­treme Lager find­et sich bei dem antifaschis­tis­chen News­portal für Bran­den­burg Infori­ot.

Eine Demon­stra­tion am 17. Jan­u­ar 2016 im sach­sen-anhal­tinis­chen Gen­thin unter­stre­icht den recht­sex­tremen Charak­ter des „Bürg­er­bünd­niss­es“: Aufgerufen hat­te dazu die „Bürg­er­be­we­gung Gen­thin“, die im Inter­net unter dem Label „Gen­thin wach auf“ fir­miert. Die Gruppe ist Teil des „Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land“ und eng mit der offen neon­azis­tis­chen Partei „Der III. Weg“ ver­woben. Die Ver­anstal­tun­gen wur­den von Schildern, Fah­nen, Trans­par­enten und Jack­en dominiert, die alle mit dem Logo von „Der III. Weg“ verse­hen waren. Natür­lich beteiligte sich auch Nico Tews an dem Nazi­auf­marsch – wurde er doch von ein­er Gruppe aus seinem Bünd­nis organisiert.


Tews vom Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land, der Barde Thomas L. alias „TO!tonicus“ mit Matthias F. von „Der III.Weg“, v.r.n.l. Foto: Press­eser­vice Rathenow

Verbindungen zwischen den Nauenern und dem Bürgerbündnis Deutschland

An der Mobil­isierung zu den Kundge­bun­gen des „Bürg­er­bünd­nis“ beteiligten sich auch die Neon­azis des lokalen NPD-Ablegers aus Nauen. So hat­te der NPD-Poli­tik­er Maik Schnei­der im Vor­feld der Kundge­bung vom 4. Novem­ber 2015 auf Face­book verkün­det, „wieder die Rathenow­er unter­stützen“ zu wollen. Er gilt als Schlüs­selfig­ur der recht­sex­tremen Szene im Havel­land: Für die NPD sitzt er in der Nauen­er Stadtverord­neten­ver­samm­lung und im Kreistag, er gilt als ein­er der führen­den Köpfe der „Freien Kräfte Neu­rup­pin / Osthavel­land“. In der Ver­gan­gen­heit war der gel­ernte Erzieher nicht bloß für die Freie Kam­er­ad­schaftsszene und Parteinazis aktiv, son­dern auch im Umfeld des „Kampf­bund Deutsch­er Sozial­is­ten“ (KDS) und des mit­tler­weile ver­bote­nen Vere­ins „Heimat­treue Deutsche Jugend“ (HDJ).
Schnei­der sitzt derzeit in Unter­suchung­shaft, weil er als Rädels­führer ein­er Gruppe gilt, die in der zweit­en Jahreshälfte 2015 mehrere Anschläge verübt hat, darunter ein Bran­dan­schlag auf das Auto eines pol­nis­chen Bürg­ers, ein weit­er­er auf eine Turn­halle, die als Flüchtling­sun­terkun­ft genutzt wer­den sollte sowie mehrere Angriffe auf DIE LINKE-Parteibüros. Gegen ihn, vier mut­maßliche Mit­täter und Gle­ich­gesin­nte wird derzeit wegen der Bil­dung ein­er ter­ror­is­tis­chen Vere­ini­gung ermit­telt.
Schnei­der tat auf sein­er — bis heute öffentlich ein­se­hbaren – pri­vat­en Face­book-Präsenz am 2. Novem­ber 2015 hin­sichtlich der Demos in Rathenow die Hoff­nung kund, „dass es dieses Mal mehr Bürg­er wer­den die gegen dieses asoziale Sys­tem demon­stri­eren“. Um seinen Teil zu einem Erfolg beizu­tra­gen, habe er mit Unter­stützern „hun­dert von Briefkästen in Nauen mit Info­ma­te­r­i­al“ bestückt (Fehler im Orig­i­nal“). In diesem Zusam­men­hang inter­es­sant: Nico Tews vom „Bürg­er­bünd­nis“ hat­te in einem Inter­view mit der MAZ die Verteilung der Fly­er an Unter­stützer zur Chef­sache erk­lärt und gesagt, er habe „die Kon­tak­t­dat­en aller Per­so­n­en, die Fly­er beka­men“. Den Foto­be­weis für Verteilak­tion und Demoteil­nahme liefert Schnei­der aber auch selb­st (siehe unten): Die mit dem Beitrag auf Face­book geposteten Bilder zeigen erstens Briefkästen, die mit den Fly­ern des Bürg­er­bünd­nis bestückt wur­den sowie zweit­ens Schnei­der mit seinen „Kam­er­aden“ in Rathenow bei der Kundge­bung des „Bürg­er­bünd­nis“ in der Vor­woche – sie hal­ten ein gelbes Trans­par­ent mit der Auf­schrift „Wir sagen Nein zum Asy­lanten­heim. Wir sind das Volk“. Schnei­ders Teil­nahme lässt sich auch durch weit­ere Bilder des Press­eser­vice Rathenow bele­gen. Del­e­ga­tio­nen der NPD Nauen, darunter Schnei­der, nah­men regelmäßig mit Fah­nen und Trans­par­enten an den Kundge­bun­gen Teil.


Dieser und die fol­gen­den Screen­shots: facebook.com

Auch am 26. Novem­ber postete Schnei­der ein Foto von sich und anderen Kundge­bung­steil­nehmern in Rathenow und kom­men­tierte: „Ein Teil der Nauen­er Bande war am Dien­stag wieder in Rathenow…“.

Quo vadis, „Bürgerbündnis“?

Auch im neuen Jahr fan­den regelmäßig Aufmärsche des Bünd­niss­es in Rathenow statt. Das Inter­esse an den Ver­anstal­tun­gen von Tews und Kaiser nahm jedoch spür­bar ab: Bei den let­zten bei­den Kundge­bun­gen mit anschließen­der Demon­stra­tion am 4. und 12. April nah­men nur noch 50 bzw. 90 Per­so­n­en teil. Auch eine von den Ver­anstal­tern für den 5. März 2016 großspurig als neues „Ham­bach­er Fest“ mit „800 plus X“ Teil­nehmern angekündigte Demon­stra­tio­nen floppte – es kamen 400–500 Teil­nehmern. Während­dessen machte sich das Bürg­er­bünd­nis Deutsch­land mit der auf Face­book geteil­ten Ein­schätzung, der IS sei in Rathenow angekom­men und würde Teil­nehmer sein­er Aufmärsche bedro­hen, zum Gespött des Inter­nets. Dem Selb­st­be­wusst­sein der Bürg­er­bünd­nis-Führer scheint das keinen Abbruch zu tun: Chris­t­ian Kaiser verkün­dete, er werde bei der näch­sten Ober­bürg­er­meis­ter­wahl in Rathenow kan­di­dieren.

Ein zweiter Teil zu diesem Text wird sich mit den lokalen Aktivist_innen beschäftigen, die sich den Neonazis und Flüchtingsfeind_innen mit demokratischer Kultur vor Ort in den Weg stellen.

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Antifaschismus Law & Order

Potsdam, POGIDA, Polizeigewalt!

Seit mehreren Wochen find­en in Pots­dam nun in unregelmäßi­gen Abstän­den Demon­stra­tio­nen der Neon­azis und Rassist_innen um den Pots­damer Pegi­da-Ableger “Pogi­da” statt. Doch nicht nur damit haben Pots­damer Antifaschist_innen zu kämpfen. Bei jedem Auf­marsch hin­ter­lassen auch ca. 1000 Polizist_innen ein Spure der Gewalt und Willkür. So kam es seit den ersten Aufmärschen immer wieder zu mas­siv­en Über­grif­f­en seit­ens der Polizei gegen antifaschis­tis­che Gegendemonstrant_innen. Hier eine, bei weit­em nicht vollständige,
Auflis­tung der let­zten Monate:
Am 13.1. wur­den Sitzblock­aden durch Pfef­fer­sprayein­satz und Schläge mit Fäusten und Ton­fas aufgelöst. Es fan­den kein­er­lei Durch­sagen oder Erk­lärun­gen seit­ens der Polizei vor der Räu­mung statt. Die Gewal­tan­wen­dung war unmit­tel­bar. Mehreren Demonstrant_innen wurde dabei von Polizis­ten an den Po gegrabscht.
Am 20.1. wurde ein Jugendlich­er im Pots­damer Haupt­bahn­hof von Polizist_innen in einem nicht ein­se­hbaren Seit­en­gang zusam­mengeschla­gen. Er erhielt im Anschluss eine Anzeige wegen Wider­standes gegen Voll­streck­ungs­beamte. Ein Gegen­demon­strant wird in Zen­trum Ost ohne Anlass bru­tal zu Boden geris­sen, dabei sein Knie und Rück­en der­art ver­let­zt, dass er sta­tionär behan­delt wer­den musste.
Am 22.1. prügelt die Polizei bei ein­er AfD-Ver­anstal­tung 150 Gegendemonstrant_innen ca. 15m (!) weit­er von einem Ver­anstal­tung­sort, der der Polizei nicht genehm war (nach­dem die Polizei sie vorher durchge­lassen hat­te). 5min (!) nach­dem die Leute weggeprügelt wur­den, wird die Ver­samm­lung der AfD been­det. Polizist_innen die mas­siv zuschlu­gen dreht­en sich danach unter dem Schutz ihrer Kolleg_innen weg um nicht durch ihre Kennze­ich­nung iden­ti­fiziert wer­den zu können.
Am 27.1. wer­den Gegendemonstrant_innen nicht zu genehmigten Ver­samm­lun­gen durchge­lassen. Ein Umstand der in Pots­dam auf­grund weiträu­mi­gen Absper­run­gen zu einem weit­eren trau­rigem Merk­mal der “Pogida”-Aufmärsche wird.
Am 10.2. wird eine Gegen­demon­stra­tion nicht bis zum genehmigten End­punkt gelassen. Einem Gegen­demon­stran­ten wird bei einem Polizeiein­satz die Hand gebrochen, dabei schlägt ein Beamter auf die Hand eines Jugendlichen. Die Folge ist ein offen­er Knochenbruch.
Am 17.2. wird eine friedliche Sitzblock­ade in der Großbeeren­str. nach Beendi­gung des “Pogida”-Aufzuges eingekesselt. Es gelingt jedoch dem Polizeikessel durch Hausaufgänge zu ent­fliehen. Auf dem Rück­weg von den gelun­genen Block­aden in der Großbeeren­str. wer­den willkür­lich Men­schen kon­trol­liert. Diese wer­den abgeschirmt, ED-behan­delt, teil­weise abge­filmt und ihre Per­son­alien fest­gestellt. Im Anschluss stürmten Polizist_innen das Nowawes, eine Kneipe in Babels­berg, ange­blich auf der Suche nach einem Straftäter. Nach­dem die Polizist_innen durch erfol­gre­iche Gegen­wehr der Kneipenbesucher_innen nicht in die Kneipe gelangten, ver­prügel­ten sie, wie auf einem Video gut doku­men­tiert ist, mehrere Men­schen und nehmen offen­sichtlich wahl­los die nächst greif­bare Per­son mit. Obwohl diese seit Beginn der ver­sucht­en Stür­mung ganz vorne ste­ht, machen diese Per­son Beamt_innen anfangs keine Ansätze sie festzunehmen. Offen­bar war das eine willkür­liche Fes­t­nahme für die Statistik.
Die Aus­maße der Polizeige­walt sind sicher­lich viel umfan­gre­ich­er, nur von einem kleinen Teil haben wir mit­bekom­men. Doch was kön­nen wir tun? Auch wenn es jede_r selb­st entschei­den sollte wie damit umzuge­hen ist, rat­en wir davon ab Anzeigen zu stellen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Gege­nanzeigen wegen Wider­standes das Mit­tel der Wahl der hand­grei­flichen Beamt_innen ist. Außer­dem ermit­teln Cops gegen Cops, kein Umstand der großes Ver­trauen in eine wie immer geart­ete Strafver­fol­gung aufkom­men lässt. Hier Gerechtigkeit zu erwarten ist sinnlos.
Daher passt gut aufeinan­der auf, bildet Bezugs­grup­pen, schaut nicht weg bei Polizeige­walt, seid für einan­der da. Meldet dem EA Fes­t­nah­men und auch wenn die Per­son wieder draußen ist. Wen­det euch an die Rote Hil­fe, wenn ihr Post von Polizei, Staat­san­waltschaft oder Amts­gericht bekommt. Besprecht die Vor­fälle gemein­sam und lasst Raum für Äng­ste und Wut holt euch ggf. pro­fes­sionelle Hil­fe. Gemein­sam gegen Ras­sis­mus und Polizeigewalt!

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Antifaschismus Flucht & Migration Law & Order

Pogida die 9.

Die Pots­damer Verkehrs­be­triebe rech­neten wohl mit äußerst mas­siv­en Störun­gen, so ließen sie schon über zwei Stun­den vor Ver­anstal­tungs­be­ginn keine Straßen­bah­nen mehr in Rich­tung Hum­boldt­brücke fahren. Es gab drei angemeldete Gegenkundge­bun­gen, zum einen eine des SV Babels­berg 03, in der Schwa­ne­nallee. Hier nah­men bis zu 250 Men­schen an der Kundge­bung teil, die sich let­z­tendlich direkt hin­ter dem Start­punkt des Pogi­da-Auf­marsches posi­tion­ieren kon­nte. So war eine Beschal­lung der Anfangskundge­bung gewährleis­tet. Hier soll es wohl auch zu polizeilichen Über­grif­f­en mit­tels Pef­fer­spray gekom­men sein, auch Fes­t­nah­men waren zu verzeichnen.
Die Pogi­da-Neon­azis waren heute mit nur etwa 40 Per­so­n­en auf der Straße. Sie wur­den jedochvon der Polizei gebeten den Gehweg zu benutzen, aus Sicher­heits­grün­den. Was sie auch tat­en. Die Neon­azis um Chris­t­ian Müller set­zten ihren Weg durchs Schmud­del­wet­ter rel­a­tiv zügig zurück. Auf Höhe der Manger­straße passierten sie eine Gegenkundge­bung der Linken. Hier protestierten ca. 200 Men­schen laut­stark. Block­ade­v­er­suche, nahe der Kundge­bung, wur­den durch die Polizei vereitelt.
Die Abschlusskundge­bung der Neon­azis fand vor dem ehe­ma­li­gen Kreiswehrersatzamt statt. Hier rede­ten unter anderem eine Per­son von Bärgi­da und natür­lich Müllers Chris­t­ian. Er verkün­dete gewohnt schwank­end, dass er abtreten wollen würde, dass jemand anders die Anmel­dung des näch­sten Auf­marsches übernehmen werde, dieser solle wohl am 7. April vom Haupt­bahn­hof starten. Aber wie immer sind die Aus­sagen des Müller­schen Neon­azis wenig ver­läßlich. Der soge­nan­nte „Press­esprech­er“ Her­bert Hei­der set­zte sich für einen Zwei-Wochen-Rhyth­mus ein, Müller dage­gen kündigte an jede Woche auf­marschieren zu wollen.
Die gesamte Abschlusskundge­bung wurde laut­stark übertönt von den über 500 Teil­nehmenden an der Kundge­bung des Bünd­niss­es „Pots­dam beken­nt Farbe“. Gegen Ende der Neon­azi-Ver­anstal­tung gab es noch einen Störver­such. Laut Presse ver­sucht­en wohl einige Aktivist_innen Pogi­da das Front­tran­spi abspen­stig zu machen. Ins­ge­samt begleit­eten wohl ca. 800 Antirassist_innen und Antifaschist_innen den Pogi­da-Auf­marsch kritisch.
Nach­dem Müller die Ver­anstal­tung für been­det erk­lärte, teilte sich Pogi­da in zwei Grup­pen auf. Eine lief in Polizeibegleitung wieder zurück zur Glienick­er Brücke, mit dabei waren Chris­t­ian Müller und weit­ere 15 ‑20 Neon­azis. Die zweite Gruppe von eben­falls 15 Per­so­n­en wurde über die Hum­boldt­brücke und Zen­trum Ost zum Haupt­bahn­hof geleitet.

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Antifaschismus Flucht & Migration Law & Order

Familie Novakovic aus Forst droht die Abschiebung – Minister Schröter missachtet Kinderrechte

Am 29. Feb­ru­ar 2016 hat Innen­min­is­ter Schröter das Ersuchen der Härte­fal­lkom­mis­sion für ein Bleiberecht der Fam­i­lie Novakovic abgelehnt. Vor dreiein­halb Jahren reiste das Ehep­aar Novakovic mit ihren drei Kindern nach Deutsch­land ein und beantragte Asyl. Als Roma sind die Kinder in Ser­bi­en in der Schule immer wieder mas­siv ange­fein­det und ange­grif­f­en wor­den. Auch nach wieder­holten Inter­ven­tio­nen der Eltern hat die Fam­i­lie von Ver­ant­wortlichen jahre­lang keinen Schutz oder Hil­fe erfahren. In der Folge kon­nten die Kinder die Schule nicht mehr besuchen. Um eine Zukun­ft für die Kinder ohne Gewalt und Diskri­m­inierung zu find­en, floh die Fam­i­lie nach Deutschland.
Der neun­jährige Kris­ti­jan ist der jüng­ste der drei Geschwis­ter. Er ist wegen sein­er trau­ma­tisieren­den Erfahrun­gen seit über einem Jahr in jugendpsy­chi­a­trisch­er Behand­lung. Sollte die Fam­i­lie abgeschoben wer­den, wird er die drin­gend notwendi­ge Behand­lung aller Voraus­sicht nach nicht fort­set­zen kön­nen. Roma wer­den in Ser­bi­en grundle­gende soziale Rechte ver­wehrt, viele leben weit unter dem Exis­tenzmin­i­mum. Den Novakovics dro­ht bei Rück­kehr unmit­tel­bar die Obdachlosigkeit. Die Kinder wür­den wieder dem gle­ichen Umfeld und Bedin­gun­gen aus­ge­set­zt sein, die sie bere­its vor ihrer Flucht nach Deutsch­land aus der Schule getrieben haben. Das Recht auf Bil­dung, auf geistige Entwick­lung und eine “nor­male” Kind­heit in einem sicheren Umfeld wären ihnen verwehrt.
Die UN-Kinder­recht­skon­ven­tion – von der Bun­desre­pub­lik im Jahr 2010 rat­i­fiziert — bes­timmt, dass Kinder nicht als Anhängsel ihrer Eltern behan­delt wer­den dür­fen, son­dern eigene Men­schen­rechte haben. Sie
verpflichtet Behör­den, bei jed­er Entschei­dung den Vor­rang des Kindeswohls zu garantieren. Zum Weltkindertag im Sep­tem­ber let­zten Jahres stellte das Deutsche Insti­tut für Men­schen­rechte unmissver­ständlich klar, dass staatlichen Behör­den auf Bun­des- , Lan­des- und kom­mu­naler Ebene zur Beach­tung der Kinder­rechte aus der UN-Kinder­recht­skon­ven­tion verpflichtet sind und dass diese Rechte für
alle Min­der­jähri­gen, unab­hängig von ihrer Staat­sange­hörigkeit, ihrem aufen­thalt­srechtlichen Sta­tus oder dem ihrer Eltern gelten.
Die psy­chis­che Sit­u­a­tion der Geschwis­ter Novakovic hat sich in den Jahren ihres Aufen­thalts in Bran­den­burg sta­bil­isiert und sie haben begonnen Wurzeln zu schla­gen. Die Fam­i­lie hat inzwis­chen viele
Unter­stützerIn­nen, gute Fre­undIn­nen und Nach­barIn­nen gefun­den. Bei­de Eltern arbeit­en ger­ingfügig. Frau Novakovic spricht fünf Sprachen und unter­stützt ehre­namtlich andere Flüchtlinge als Dol­metscherin und Inte­gra­tionslotsin. In Forst sind die Kinder bestens in der Schule inte­gri­ert. Sie gehen motiviert, gerne und regelmäßig zur Schule, so dass eine Lehrerin in einem der vie­len Unter­stützungsaufrufe schrieb: “Soll ihnen das alles wieder genom­men wer­den? Wie lange kann ein Kind eine ’solche Kind­heit’ noch verkraften?”
In diesem Sinne sind zahlre­iche Schreiben von LehrerIn­nen, Nach­barIn­nen, Kirchen­mit­gliedern, der Arbeit­ge­berin, Sozialar­bei­t­erIn­nen und Men­schen aus Ini­tia­tiv­en und Ver­bän­den ver­fasst wor­den. Alle appel­lierten an die Regierung, der Fam­i­lie ein dauer­haftes Bleiberecht zu gewähren, denn in Forst und Umge­bung wer­den sie als Vor­bild für soziale Inte­gra­tion angesehen.
Die Härte­fal­lkom­mis­sion war im Novem­ber 2015 zu dem sehr deut­lichen Ergeb­nis gekom­men, dass im Falle der Fam­i­lie Novakovic drin­gende human­itäre und per­sön­liche Gründe vor­liegen, die – ins­beson­dere im
Inter­esse der Kinder – die weit­ere Anwe­sen­heit im Bun­des­ge­bi­et erforder­lich machen. Innen­min­is­ter Schröter set­zte sich darüber hin­weg und entsch­ied gegen das Ersuchen der Kommission.
“Mit sein­er Entschei­dung sendet Innen­min­is­ter Schröter ein fatales Sig­nal in die Gesellschaft und an all diejeni­gen, die sich für die Auf­nahme und Inte­gra­tion von Fam­i­lie Novakovic und ander­er Flüchtlinge vor Ort engagieren. Die Entschei­dung ist ein Affront gegen die Bemühun­gen der Men­schen in Forst, Fam­i­lie Novakovic in ihrer Mitte aufzunehmen und sie mis­sachtet das Kindeswohl der betrof­fe­nen Kinder” sagte Ivana Domazet vom Flüchtlingsrat Brandenburg.
Der Flüchtlingsrat fordert die Lan­desregierung und den Innen­min­is­ter auf, der Fam­i­lie Novakovic ein dauer­haftes Bleiberecht zu gewähren und sie nicht aus dem Kreis ihrer neuen Fre­undIn­nen und Nach­barIn­nen zu reißen. Die Kinder dür­fen nicht aus der Schule und ihrem gewohn­ten Umfeld genom­men und nach Ser­bi­en ins Elend abgeschoben wer­den, wo sie wieder Diskri­m­inierung und Anfein­dun­gen aus­ge­set­zt wären und ihnen das Recht auf Bil­dung und Entwick­lung ver­wehrt bliebe.

Inforiot